Die allererste schriftliche Notiz über einen Krankheitsfall von MS (Quelle: Dr. Thomas Klitsch , Fulda – Vortrag 2009) findet sich über eine Patientin namens Lidwina von Schiedam (1380-1433 – genannt die „Dulderin“ – sie war eine niederländische Heilige):
Ohne ersichtlichen Grund war sie mit 16 Jahren beim Schlittschuhlaufen gestürzt, mit 19 Jahren litt sie an Beinlähmung und Sehstörungen. Im Laufe der Jahre kam es zu einer zunehmenden Krankheits-Verschlechterung und im Alter von 53 Jahren verstarb sie .
Eine der ersten medizinischen Beschreibungen der Multiplen Sklerose wird William MacKenzie(1791–1886) zugeschrieben. Der schottische Augenarzt berichtete die Krankengeschichte eines 23-jährigen Mannes, bei dem zunächst ‚Sehstörungen‘ aufgetreten waren und er wegen dieser Beschwerden und insbes. wegen zunehmender Lähmungen im Londoner St. Bartholomew's Hospitalaufgenommen worden war. Zusätzlich entwickelten sich Sprech-Störung ( Dysarthrie) und Harninkontinenz. Alle Symptome waren jedoch nach zwei Monaten wieder weitestgehend verschwunden.
Man schrieb das Jahr 1838, als der britische Arzt R. Carswell (Pathologe und Anatom) in London zum ersten Male einen Fall von MS [Multipler Sklerose] beschrieben hatte.
Die anatomischen Grundlagen und Kenntnisse dieser Krankheit verdanken wir den profunden und präzisen Arbeiten des in seiner Zeit hoch angesehenen Pariser Pathologen Jean C. Cruveilier (1791-1874).
Ihm verdankt die Medizin u.a. auch die Beschreibung eines Gelenkes am 1. Halswirbelkörper, des Atlas, = das Cruveilier’sche Gelenk und ihm zu Ehren tragen zwei Krankheiten seinen Namen, so die spinale progressive Muskelatrophie, die Cruveilhier-Krankheit oder auch Cruveilhier Atrophie und eine heute ungeläufige Benennung für das Magengeschwür, das Cruveilhier Ulcus .
Er prägte 1842 für die inselförmigen Veränderungen des Rücken-Marks den treffenden Ausdruck der „sclerose en tâches, en îles“ .
[krankhafte Verhärtung von Geweben bzw. Organen „in Flecken“ und „Inseln“]
Übrigens und nebenbei:
Cruveilhier schrieb die MS dem „Unterdrücken des Schwitzens“ zu.
Der Breslauer Internist Friedrich Theodor von Frerichs (1819-1855) und seine beiden Schüler (Assistenten) Wilhelm Valentiner und Jonas Goldschmidt hatten als erste Ärzte die Diagnose einer „herd-förmigen Sklerose“ intra vitam – also am lebenden Menschen – gestellt.
Der französischen Neurologen-Schule um den berühmten Professor für Neurologie, Jean-Martin Charcot (1825-1893) verdanken wir weitgehende Erkenntnisse zu dieser ‚heimtückigen’ Krankheit.
Im Jahre 1868 beschrieb Charcotdie Erkrankung nicht nur umfassend klinisch, sondern auch detailliert pathologisch:
Etwa das Verteilungsmuster multipler sklerosierender Herde in der Nachbarschaft der Hirnventrikel und im Hirnstamm sowie mikroskopisch den Verlust der Markscheiden im Bereich dieser Herde.
Mit dem Namen ‚Charcots’ sind viele medizinische Fachbegriffe, Bezeichnungen und auch Krankheiten versehen; so die auch heute noch gebräuchliche Bezeichnung, die Charcot’-sche Trias (das ist skandierende Sprache, Intentionstremor und Nystagmus als „klassische Symptomen-Trias“ bei der MS und zwar, wenn Entmarkungsherde im zerebellaren System vorliegen; in einem medizinischen Fachartikel erstmals 1862 so bezeichnet) – und um Vulpian, Ordenstein u.a.m. verdanken wir letztlich den heute noch gültigen Fachbegriff für diese Krankheit, den der Multipelen Sklerose wie er zuerst lautete und dann umgewandelt wurde und so unverändert lautet
„Multiple Sklerose [MS]“
Übrigens:
Bereits 1877 schlug der Neurologe Julius Althaus(1833-1900) vor, die Erkrankung nach Charcot zu benennen.
Die Benennung als „Morbus Charcot“ ist jedoch ungebräuchlich geworden.
Um die Jahrhundertwende ins 20. Jahrhundert war dann bereits die Symptomatologie der MS durch die wissenschaftlichen Arbeiten des Berliner Nervenarztes Hermann O. Oppenheim (1858-1919), des Wiener Internisten und Neurologen Adolf Gustav G. von Strümpell (1853-1925) und – neben Uthoff [nach ihm benannt das „Uthoff-Phänomen ()] und E. Müller – besonders des Wiener Neurologen Otto Marburg (1874-1948) – nach ihm benannt ist die Marburg’sche Trias (das sind Pyramidenzeichen, Aufhebung der Bauchhautreflexe und temporale Abblassung der Sehnervenpapillen als weitere charakteristische Symptome der MS) – zum Abschluss gekommen.
Die Wissenschaft ist sich heute (weitestgehend) sicher, dass der berühmte deutsche Dichter Heinrich Heine (1797-1856) an MS gelitten hat.
Aus einem Briefwechsel mit seiner letzten Liebe, genannt „Mouche“ (Mücke) stammen die folgenden Zeilen (Paris, 12.09.1848):
…„Dieses Unleben ist nicht zu ertragen, wenn sich noch Schmerzen dazugesellen. Wenn ich auch nicht gleich sterbe, so ist doch das Leben für mich auf ewig verloren. Und ich liebe doch das Leben mit so inbrünstiger Leidenschaft. Für mich gibt es keine schönen Berggipfel mehr, die ich erklimmen, keine Frauenlippe, die ich küsse, nicht mal mehr ein guter Rinderbraten in Gesellschaft heiter schmausender Gäste; meine Lippen sind gelähmt wie meine Füsse. Auch die Eßwerkzeuge sind gelähmt wie meine Füße ..."
Und weiter:
… „Ich weiß nicht, woran ich bin. Und keiner meiner Ärzte weiß es."
Was für und über die erschöpfend dargestellte Symptomatologie zu sagen ist, kann leider für die Ätiologie (= Krankheitsherkunft/-Ursache) und die Pathogenese (d.s. die Abläufe, die zum Ausbrechen einer Krankheit führen) nicht bzw. nur teilweise ausgesagt werden.
Die neuesten wissenschaftlichen Kenntnisstände sollen hier außen vor bleiben; dazu komme ich später.
An dieser Stelle – im Rückblick und in der Medizingeschichte (der „Medizin-Historie“) – sollen einige „Arbeits-Thesen“ zur Ätiologie (Ursache) erwähnt sein.
Es würde den Rahmen des Buches sprengen, sollten hier sämtliche Thesen, Vermutungen und Postulate – aus den verschiedensten Fach-Richtungen und medizinischen Anschauungsweisen – genannt sein.
Da die MS wie jede andere (ernste) Krankheit über ihren eigen Rahmen hinaus an die Probleme und Fortschritte der gesamten Medizin gebunden ist, haben Entdeckungen und Hypothesen ihre Spuren in der ätiologischen MS-Forschung hinterlassen.
Nachfolgend zitiere ich aus dem Buch „Die Multiple Sklerose – Teil I: Geschichtlicher Überblick“ [enthalten in „Handbuch der Inneren Medizin; Teil Neurologie; Bd. 2“ von A. Schrade ] –.
Folgende Theorien zur Ätiologie der MS sollen kurz genannt sein: …
... der Spirochätennachweis durch Kuhn & Steiner, MS auf der Basis eines infektiösen Geschehens durch M. Alter & J. Speer (1968), einen Intoxikationsnachweis durch die beiden Wiener Neurologen E. & W. Birkmayer (1957), die Theorie der Blutzersetzung und in deren Gefolge eine Läsion der kleinen Nervenmark-Venen durch O. Buss (1890), MS auf dem Boden eines immunpathologischen Vorgangs – einer unspezifischen Entmarkung? – beschrieben von K. Jellinger, F. Seitelberger & H. Tschabitscher (21.4.1958 in Wien), der Vorgang einer „thermoregulatorischen Entgleisung“ durch M.J. Norhanha, C.J. Vas & H. Asiz (1968), der Komplex einer „Neuro-Allergie“ durch E. & H. Pette und H. Bauer (1959), MS auf dem Boden einer chronischen Bleivergiftung; MS aufgrund erbgenetischer Vorgänge, beschrieben von H. Tschabitscher & Th.J. Salvendy (1965), dann – dies wiederum sehr interessant – die „Auto-Immun-Theorie“ von A.E. Wright (1965)!, die „Virus-Infektions-Theorie“ von G. Schaltenbrandt (1956)!
In weiteren Arbeiten werden verschiedene „exogene Noxen“ (Regen, Klima, Temperatur, Wasserverunreinigung usw.) in den Vordergrund gestellt. ...
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