Sie legte den freien Arm um ihn, fand seinen Nacken. Mit den Fingerspitzen fuhr er den Umriss ihrer Lippen nach. Dann beugte er sich vor. Nahm ihr Gesicht in beide Hände, unendlich vorsichtig, als sei es eine zerbrechliche Kostbarkeit. Sie wartete, hoffte.
Doch plötzlich machte sie sich von ihm los, bückte sich, hob das Leintuch auf und warf es zurück ins Wasser. »Nein?«, fragte er sehr leise.
»Nein!«, erwiderte sie heftig.
»Du kannst es nicht ändern, Haibe. Es steht in den Sternen. «
»Ach ja? Bist du ein Sterndeuter?!«
»Das nicht. Aber ich spür‘ es. Du nicht?«
Ich bin Haibe, älteste Tochter der Dala. Ich werde Sippenmutter sein nach meiner Mutter. Und den Bund mit den Koa erneuern.
»Ich spür‘, dass es Zeit für dich wird zu gehen!« erwiderte sie spröde.
Er drehte sich wortlos um und ging.
Sie weinte.
Haibe barg das Gesicht in den Händen. Ach Zirrkan, du hattest ja recht: Es stand in den Sternen. Aber ich war die Tochter meiner Mutter. Ich habe meine Pflicht getan. Ich habe es dir nie erzählt: Am gleichen Tag noch habe ich Takus Drängen nachgegeben und mich mit ihm im Speicher getroffen. Würde dich das kränken, wenn du es wüsstest? Das müsste es nicht.
Taku hat sich redlich Mühe gegeben. Er war sanft und zärtlich trotz seiner schwieligen Hände. Aber ich habe nichts dabei empfunden. Auch nicht beim zweiten und beim dritten und beim vierten Mal. Fast war ich erleichtert, als der Monat der Enthaltsamkeit vor dem Heiligen Fest begann.
Das Heilige Fest, von den Priesterinnen durch den Lauf der Gestirne bestimmt, gefeiert an dem Tag, an dem nach neun Jahren wieder das Neumondlicht am Fest der Heiligen Hochzeit erschien – Verheißung der großen Fruchtbarkeit für die neuen Felder, die die Männer in den vergangenen Monaten mit harter Arbeit dem Wald abgetrotzt oder die sie nach neunjähriger Brache vom Gestrüpp befreit hatten.
Seit Sonnenaufgang waren sie unterwegs, alle Männer, Frauen und Kinder des Dorfes, und es wurden immer mehr Menschen. Schon vier Dorfgemeinschaften waren es nun, die dem Ort der Heiligen Steine zustrebten – mit noch weiteren würden sie zusammentreffen. Seit neun Jahren hatte Haibe nicht mehr so viele Menschen gesehen.
Tante Kjolje, die jüngste der Tanten, die liebste und vertrauteste, schloss zu Haibe auf und fragte leise: »Wie geht es dir, Haibe, hast du Angst davor? Ich meine, natürlich hat dich die Priesterin auf alles vorbereitet, natürlich hat dir deine Mutter erzählt, was du wissen musst, aber es ist doch etwas anderes, wenn man das erste Mal, und dann mit irgendeinem Mann, einem Fremden vielleicht, wenn ich dir irgendwie – « Die Tante brach ab, forschte in Haibes Gesicht.
»Mach dir keine Sorgen, Tante Kjolje!« Sie versuchte ein Lachen. »Es ist nicht das erste Mal. Ich war schon mit Taku zusammen.«
Die Tante stieß erleichtert die Luft aus. »Dann ist es ja gut!«
Nichts ist gut, Tante.
Sie kamen an der Stätte der Heiligen Steine an, zogen die Alltagskleidung aus und begannen sich für das Fest zurechtzumachen. Die Frauen und jungen Mädchen lösten die Zöpfe und kämmten ihre Haare in wallende Locken, bemalten einander die nackten Oberkörper mit roter Farbe und dunklen Mustern, legten bunte Ketten an und statt eines Kleides das kurze Röckchen aus kunstvoll geflochtenen Bastschnüren.
Endlich begann die Prozession entlang der Steinreihe von einem Grab zum anderen. Die Frauen und Mädchen auf der einen Seite, angeführt von den drei Erscheinungen der Einen: der mädchenhaft schönen Priesterschülerin, der mit allen Zeichen der Fruchtbarkeit geschmückten jungen Priesterin, der mit schreckenerregendem Weiß bemalten und zu einer Maske erstarrten alten Priesterin. Die Männer und Jungen auf der anderen Seite, angeführt von dem Einen, dem Auserwählten, dem Todgeweihten, dem Abbild des Sohn-Geliebten, der sterben würde, sterben musste, um den die Erde in Trauer und Starre verfallen würde, ehe er wieder auferstand.
Haibe hielt den Blick auf ihre Füße geheftet im verzweifelten Bemühen, sich dem Fest würdig zu erweisen, an die Große Erneuerin zu denken, nicht mit den Augen Zirrkan zu suchen, der anwesend sein musste, dessen Gegenwart sie spürte mit jeder Faser.
Das große Opferfeuer. Die Tötung von Stier und Schwein, den Tieren, die Ihr heilig waren, den Sinnbildern Ihrer Fruchtbarkeit.
Das Opfermahl, mühsames Hinunterwürgen des geweihten Fleisches.
Dort drüben, unter dem Baum, das ist er. Nein, ich werde nicht zu ihm gehen. Dies ist das Heilige Fest, das neun Jahre Segen über unsere Felder bringen soll, über unser Vieh, über uns selbst.
Die Lieder, die Tänze.
Er sieht mich an. Er soll mich nicht so ansehen!
Der feierliche Augenblick, als in der Abenddämmerung für einen kurzen Augenblick die feine, junge Sichel des Mondes halb um das fahle, kaum erkennbare Rund des Mondes sichtbar wird und dann hinter dem Horizont versinkt: Neumondlicht, Beginn eines neuen Neun-Jahres-Kreises.
Endlich die Nacht. Alle Kinder entfernt. Wir Frauen allein unter uns: Dies sind die Mysterien, auf die mich die Priesterin vorbereitet hat.
Heilige Mutter, wir feiern deine Hochzeit – vor aller Zeit geschehen, geschieht sie auch heute. Wir feiern deine Fruchtbarkeit. Du hast alles hervorgebracht, Himmel und Erde, Pflanzen und Tiere, Steine und Menschen. Jedes Jahr gebierst du neu, was den Weg alles Vergänglichen gegangen ist, denn deine Fruchtbarkeit ist ohne Grenzen. Mach auch uns fruchtbar, unsere Felder und unser Vieh.
Im Fackelschein führen die Drei uns zu den Fruchtbarkeit spendenden Bäumen am Bachrain: Birke und Erle, Hasel und Weide. Im Fackellicht schneiden wir Zweige. Im Fackellicht trinken wir Met. Im Fackellicht streichen wir einander leicht mit den Ruten: Fruchtbarkeit dringt ein durch unsere Haut.
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