Das vom Sturm aufgewirbelte Wasser peitschte den beiden eiskalt in Gesicht und Augen, so dass sie kaum etwas erkennen konnten. Der Wirbelsturm hatte sie jetzt in seiner vollen Stärke erreicht. Es war, als ob sich Zeus und Poseidon einen erbitterten Kampf lieferten, bei dem keiner verlieren mochte. Der Twister kam jetzt direkt von vorne, richtete das Schiff am Bug langsam wieder auf, so dass die ganzen zusammengekeilten Fahrzeuge wieder nach hinten geschoben oder gleich ins Wasser geschleudert wurden. Mary und Be klammerten sich trotz fast gefühlloser Hände, verzweifelt an den Stahlstangen fest als das Schiff nahezu senkrecht im Wasser stand. Das Geräusch des Windes war ohrenbetäubend, das Wasser und der Regen fühlten sich an wie Peitschenhiebe. Sie hingen an ihren Stäben wie zwei Opfergaben, die das Meer gerade verschlingen wollte.
Wer von den beiden zuerst abrutschte, kann keiner mehr sagen. Die Naturgewalt war so unbändig stark, dass keine menschliche Kraft ihrer hätte trotzen können. Sie trafen genau in dem Augenblick sehr unsanft auf der Wasseroberfläche auf, als der Sturm die ganze Fähre etwas nach links hob und somit derzeitig keine Gefahr (wenn man in dieser Situation die Dreistigkeit besitzt und das überhaupt so ausdrücken kann) darstellte. Mary und Be sanken wie zwei Sandsäcke in die Tiefe der eisigen See. Sie riss ihn immer tiefer mit sich, da die beiden aneinander gebunden waren. Aber die eisige Kälte des Wassers ließ sie kämpfen. Unbändige Kräfte wurden frei und sie arbeiteten sich Stück für Stück nach oben, wobei Be Mary immer wieder Hilfe leisten musste. Noch während des Auftauchens entledigte sich Mary Lederjacke, weil diese durch das viele Wasser immer schwerer wurde. An der Oberfläche angekommen, konnte sie gerade noch nach einer vorbei treibenden Holzplanke greifen, bevor Be von einer umherfliegenden Holzstange am Kopf getroffen wurde. Instinktiv ergriff sie ihn unter den Armen und hielt sich an der Planke fest.
Sie war eine ausgezeichnete Schwimmerin, die das Wasser liebte und sich am liebsten unter Wasser bewegte, nur heute hielt sie dies für keine sehr gute Idee. Normalerweise sah sie Wasser als ihren Verbündeten an, aber augenblicklich wurde ihre Sichtweise doch auf eine sehr harte Probe gestellt. Trotzdem verspürte sie aber keine Angst.
Damit sie Be nicht verlor, der durch den Schlag mit der Stange ohnmächtig geworden war, schob sie ihre Hand durch eine kleine Öffnung in der Planke, damit sie besseren Halt hatte. Sie brauchte ihn bei diesem Wellengang, weil ihr Be sonst zu schwer werden würde. Mary umklammerte seinen Oberkörper mit ihrem rechten Arm und mit der Hand ergriff sie seinen Gürtel – so konnte sie ihn besser halten.
Die Wellen trieben sie ganz langsam vom Ort des Geschehens fort. Die Fähre hatte sich nahezu ohne Fahrzeuge an Bord wieder stabilisieren können und trieb immer weiter aufs offene Meer hinaus.
‚Oh Mann, dass mir das jetzt hier passiert hätte ich nicht gedacht‘ sinnierte Mary. ‚Es fühlt sich ganz anders an, als wenn ich an meinem Schreibtisch sitze und eine Geschichte schreibe. Was ist, wenn ich keine Kraft mehr habe um uns über Wasser zu halten? Aber die Helden in Büchern schaffen es immer und immer wieder. Außer in Filmen, die realistisch sein sollen, da sterben sie! Schrecklich. Die hasse ich, die kann man doch nicht mögen, oder? Da käme jetzt vielleicht ein Riesenfisch aus der tiefen, schwarzen See, reißt sein Maul auf und zerfetzt uns erst die Beine, dann Arme und später den Rest von uns. Auf jeden Fall geht es so langsam, damit man die Schmerzen noch richtig mitbekommt. Und zum Schluss zeigen sie dann die ruhige See, wo nur noch ein Auge von dir herumschwimmt. Oder sie meinen es gut, und es schwimmt noch ein zweites herum, dann können sie vereint untergehen. Zum Zeichen, dass sie sich gefunden haben. Grausige Vorstellung, oder?‘
Marys Gedanken sprangen wieder hin und her. Ihr war kalt, unheimlich kalt sogar, aber die Vorstellung, was alles noch passieren könnte, ließ sie noch mehr Gänsehaut bekommen.
‚Wenn ich so weitermache kann man mich als Schmirgelpapier verwenden und vor lauter Gänsehaut die Planke glatt polieren‘.
Ihre linke Hand schmerzte immer mehr, denn die Öffnung in der Planke hatte spitze Holzsplitter, die sich in die Hand bohrten und tiefe Risse hinterließen. Blut floss heraus und verschmolz mit dem Seewasser. Zudem taten ihr alle Körperteile weh, auch dort wo sie dachte, hier kann man keinen Schmerz empfinden. Sie konnte nicht einordnen, ob etwas Schlimmeres dabei war, da das Wasser alles schön kühl hielt.
Das war das Gute an eiskaltem Wasser, alles wird schockgefroren, man merkt absolut nichts! In wärmeren Gefilden, der Wüste oder so, würde man wie verrückt schwitzen und die Herzfrequenz würde das Blut aus irgendeiner kaputten Stelle herausquellen lassen. Mit jedem Pulsschlag ein Viertele weniger Blut. Wie süß. Nicht? Dabei schmeckt Rotwein viel besser als Blut. Außer man kommt von Transsylvanien (Was übrigens nicht die Geburtsstätte von Vampiren ist, habe ich gelesen, stimmt das?)
P.S. Ich bin das Buch im Buch, Geschichten ausdenken kann ich am Besten. Zu jeder Tageszeit an jedem Ort, in jedem Land. Ich bin das, was ich bin, eine Geschichte, welche sich immer wieder neu erfindet. Ich bin ich. Ich lebe mich selbst.
Der rechte Arm, der Be fest umschlungen hielt, fühlte sich schon an wie ein eisiger Klumpen. Nahezu steif und kalt, ja fast gefühllos. Aber da musste sie durch, so konnte sie Be wenigstens nicht verlieren. Mittlerweile hatte er auch einiges von seinem doch sehr attraktiven Erscheinungsbild einbüßen müssen und hing da wie ein schaukelndes Boot an der Leine im Hafen, das immer diese typischen Klappergeräusche abgibt, wenn die Segelleinen an den Masten schlagen. Wo man dann denken könnte, man ist im Urlaub! Von wegen! Und die Schreie der Möwen wurden hier ersetzt durch die Donnerschläge, die einfach nicht aufhören wollten.
Die Holzstange oder was auch immer Be an der Stirn erwischte, hatte eine etwa sechs Zentimeter lange, klaffende Wunde hinterlassen. Das Blut lief quer über sein Gesicht herunter. So trieben die beiden lange Zeit im kalten Wasser umher. Nur kurz kam der Mond immer wieder hinter den Wolken hervor, und als es etwas heller wurde, gewann man den Eindruck, das Meer und der Himmel hätten die gleiche Farbe angenommen. Ein Wechselspiel von hell-dunkelblau gemischt mit Purpurrot, so dass sich das ganze in ein tiefes violett verfärbte. In der Ferne waren immer noch die Schreie der Menschen zu hören. Oder bildete sie sich das bloß ein?
Nachdem sie wieder einmal eine größere Welle überwunden hatten, fühlte Mary etwas Festes unter ihren Füssen. Zuerst erschrak sie heftig, weil sie dachte, es sei ein großer Fisch oder etwas anderes gefährliches. (Ihre Großmutter hatte ihr in den Sommermonaten immer wieder von einem riesigen Hecht erzählt, der bei ihnen im Badesee sein Unwesen trieb. Der Hecht zählt immerhin zur Familie der Raubfische).
Doch erfreulicherweise war es Land. Sie waren in eine kleine Bucht getrieben worden. Felsen rechts und links von ihnen, ein glitschiger, steiniger Untergrund aber relativ flach auslaufend, so dass man leicht aus dem Wasser an Land gelangen konnte. Mary konnte die Planke, nach mehreren schmerzlichen Versuchen ihre Hand zu lösen, endlich loslassen. Sie packte Be unter den Armen, überkreuzte ihre Hände vor seiner Brust, holte tief Luft, und zog sich und ihn mit der letzten Kraft die sie jetzt noch besaß, an Land. Es war aber mehr ein Kriechen, Millimeter um Millimeter, Sekunde für Sekunde, wie in einer Zeitlupenaufnahme. Ziehen konnte man dies wahrhaftig nicht nennen. Vielmehr ein Robben und Schleifen zweier fast lebloser Körper, den unwiderstehlichen Drang verspürend, wieder die Erdanziehungskraft spüren zu wollen.
Als Mary es irgendwie geschafft hatte, halbwegs im Trockenen zu sein, ließ sie ihren schlappen, überanstrengten Körper in den weichen Sand gleiten. Be immer noch fest umklammernd, lag sie völlig kaputt auf dem Rücken und blickte zum Himmel. Ihr Herz raste, ihr schwer gehender Atem hob ihre Brust auf und ab, irgendetwas rauschte in ihren Ohren und Tränen der Erleichterung liefen ihr unkontrolliert die vor Anstrengung rot glühenden Wangen hinab. Dann verlor sie das Bewusstsein.
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