„Außerhalb“ sagte Be „in einer schönen Bucht, Musst du dir mal ansehen, wenn du Zeit hast.“
„Gerne“ erwiderte Mary „ich kann nicht genug sehen, ich muss immer alles in mich aufsaugen, das ist wie eine Sucht.“
Sie schlenderten durch viele Straßen und schauten sich die Gebäude an bis es dunkel wurde. Die drei verstanden sich immer besser, waren alle auf einer Wellenlänge.
„Wie geht es dir, wenn du soviel in der Welt herumkommst?“ fragte Mary Be „das ist doch ein tolles Gefühl, diese ganzen Eindrücke zu erleben.“
„Ja, aber ich bin auch immer wieder froh, nach Hause zu kommen, damit ich alles verarbeiten kann. Du musst uns wirklich mal besuchen, es ist richtig schön bei uns. Also Lilly hat eine eigene Wohnung und ich ein Haus direkt an der Bay. Klein aber gemütlich, wie alles hier außerhalb der Stadt.“
„Mary, komm doch mit, dann können wir noch gemeinsam etwas essen gehen“ schlug Lilly vor. „Oder hast du ein Hotel in der Stadt gebucht?“
„Nein, habe ich nicht, das mache ich immer spontan, da ich nie weiß, wohin es mich zieht!“
„Na dann zieht es dich eben jetzt zu mir. Ich habe ein Gästezimmer, da kannst du gerne übernachten, das ist gemütlicher wie die doofen Hotels! Die hasse ich immer, wenn ich unterwegs bin“, sagte Be.
„Wirklich? Ist das nicht umständlich?“
„Nein, überhaupt nicht.“
„Also gut, ich freue mich! Wir müssen nur noch schnell meine Tasche im Laden holen, die habe ich dort deponiert.“
Die drei schlenderten zurück zum Laden, holten Marys Tasche und gingen zum Parkhaus, in dem Be seinen Ford Woody geparkt hatte. Das ist ein alter, amerikanischer Station Wagon aus den späten 50igern, bei dem der hintere Rahmenaufbau aus echtem Holz hergestellt ist, wunderschön anzusehen.
„Oh, ich liebe dieses Auto“ sagte Mary total begeistert. „Lilly, darf ich bitte vorne sitzen, da kann ich alles besser sehen und das Auto genießen?“
„Na klar“ sagte Lilly.
Mary setzte sich auf die vordere Sitzbank des Woodys und sog den über die Jahrzehnte entstandenen, ganz eigenen Duft des Innenraums ein. Die Sitze waren aus herrlich dunkelrotem Originalleder, das Lenkrad aus mehrschichtigem Birnenholz gefertigt, neben dem auch die Handschaltung angebracht war. Strahlend schaute Mary zu Be und grinste über beide Backen.
„Lass ihn endlich an“ drängelte sie.
Als er den Schlüssel umdrehte, blubberte der starke V8 Motor beeindruckend vor sich hin.
„Ich wusste gar nicht, dass sich Frauen so für Autos begeistern können“ wunderte sich Be.
„Oh doch, ich schon. Wenn es die richtigen sind, mit der richtigen Ausstattung und Pflege, ist das sexy und cool“.
Er verzog seinen Mund zu einem kleinen Grinsen und blickte Mary interessiert an.
Sie fuhren nun aus der Stadt in Richtung Küste.
‚Was für ein Tag! Und jetzt sitze ich neben einem netten, coolen Typen in einem tollen Wagen, besser kann’s nicht werden‘ dachte sich Mary.
In dem Augenblick klingelte plötzlich Lillys Handy. Ihre Freundin Sophie fragte nach, ob sie noch Lust hätte, mit ihr und ein paar netten Jungs ins Kino zu gehen. Sie willigte sofort ein, da sie ja wusste, Mary würde noch ein paar Tage bleiben. Be setzte Lilly bei ihrer Wohnung ab und fuhr weiter zum Hafen.
Sein Haus stand auf der anderen Seite der Bay die nur mit einer Fähre zu erreichen war, außer man nahm einen stundenlangen Umweg in Kauf. Während sie am Kai auf die Fähre warteten wurde das Wetter immer stürmischer. Der Himmel hatte sich mit schwarzen, dicken Wolken bezogen und der Wind wurde immer stärker. Mary zog ihre Jacke, die Mütze und den Schal an, weil es immer kälter wurde. Der Mond schaute ab und zu hinter den Wolken hervor, und man konnte erkennen, dass die Vollmondphase angebrochen war. Wie in einem Vampirfilm sah die Gegend jetzt aus.
„Kann auf der Fähre nichts passieren bei dem starken Wind?“ fragte Mary.
„Nein, glaube ich nicht. Seit ich hier lebe, war noch nie etwas!“ entgegnete Be.
‚Na wie beruhigend‘ dachte sich Mary.
Trotzdem kann man dem Wetter nie trauen. Das ist einfach eine Naturgewalt, gegen die man völlig machtlos ist. Die Fähre legte an, die Rampe wurde herunter gelassen und die beiden fuhren hinüber und parkten den Woody. Sie holten sich einen Kaffee in der Cafeteria und setzten sich draußen auf das Deck. Es war zwar schon etwas dunkel und der Wind pfiff, aber Mary liebte die salzige Luft und die Freiheit hier auf Deck. Sie schauten gemeinsam auf die See während sie ihren Kaffee schlürften, lachten und sich angeregt unterhielten.
Die Wolken wurden immer grauer und dicker.
Da entdeckte Mary eine sich zu einer Art nach oben offenem Trichter bildende Wolke wie sie es nur aus Fernsehberichten kannte – ein Twister!
‚Oh, das kann nichts Gutes bedeuten, wenn der auf uns zukommt‘. Sie packte Be am Arm und zeigte auf den Twister.
„Hast du so was hier schon einmal gesehen?“
Er stand auf und Mary, krampfhaft an seinen Arm geklammert, ging mit ihm zur Reling am Heck der Fähre. Der Himmel war schwarz. Der Mond blitzte ab und zu durch die Wolken, als wolle er dieses Spektakel miterleben. Der Twister raste mit aller Macht auf die Fähre zu. Die Wellen wurden immer höher. Schätzungsweise hatten sie mittlerweile eine Höhe von zehn bis fünfzehn Metern erreicht. Das Schiff knarzte in sämtlichen Ecken, so als ob es gleich zerbersten wolle. Die Gischt des aufgewühlten Meeres peitsche Mary und Be mitten ins Gesicht. Viele Autos konnten dem großen Druck des Windes und dem starken Seegang nicht widerstehen und schlitterten trotz angezogener Handbremse auf dem Parkdeck wie wild hin und her. Die Menschen flohen so schnell sie konnten kreischend unter Deck, und versuchten sich irgendwo festzuhalten, so gut es eben ging. Es war ein grausam anzusehendes Spiel der Natur.
Mary und Be standen immer noch wie erstarrt, festgeklammert an der Reling. Mary musste unwillkürlich an den Film ‚Titanic‘ denken. Ihr Kopfkino lief auf Hochtouren und sie erinnerte sich an die Bilder, als die Titanic unterging und sich die beiden Hauptdarsteller an der Heckreling festhielten während das Schiff wie ein eiserner Pfeil steil nach unten in die schäumende See glitt. Ihr Herz raste wie wild, und sie blickte sich verzweifelt nach einem sicheren Ort um, wobei sie sich fast sicher war, hier an Deck keinen zu finden.
‚Jetzt ist es vorbei‘ dachte sie. ‚Nein! Solange ich noch atme, kämpfe ich auch, ich gebe nie auf! Es gibt immer einen Plan B, C, oder sogar D. Wild entschlossen sah sie zu Be. Nach unten wollte sie auf gar keinen Fall gehen, das wäre fatal. Man wäre gefangen im eisigen Fjordwasser, falls das Schiff untergehen sollte. Just in diesem Augenblick schlug eine Welle unter den Bug und die Fähre bäumte sich auf, um diese zu bezwingen. Mary und Be sahen sich an und rannten gleichzeitig los, zwischen all den umher rutschenden Fahrzeugen hindurch weiter nach vorne, wo sie einen kleinen Eisenverschlag als Unterschlupf ausmachten. Wahrscheinlich war dort etwas gelagert worden, das sich durch die stark schlingernde Bewegung des Schiffes wohl verselbstständigt hatte. Mary kroch als erste in den Eisenverschlag, der auf der Hinterseite nicht ganz geschlossen war, sondern mit Stahlstäben versehen war. Sie nahm geistesgegenwärtig ihren Schal ab und band sich ihn um den Bauch. Das andere Ende band sie Be um, der sich vor sie gelegt hatte. Sie wollte das hier nicht alleine durchstehen und zu zweit hat man immer mehr Chancen wie alleine.
Als die Fähre den Wellenkamm erreicht hatte und sich jetzt steil nach unten bewegte, nahm das Chaos seinen Lauf. Die Fahrzeuge, die sich im hinteren Bereich des Parkdecks befanden, rutschten alle nach vorne auf ihren Unterschlupf zu. Die beiden klammerten sich krampfhaft an den Stahlstäben fest. Wie zwei Heringe in der Dose lagen sie aufeinander gepresst in dem engen Käfig. Die Fahrzeuge krachten eines nach dem anderen gegen den Eisenkasten und türmten sich wie Legosteine übereinander. Gott sei Dank hielt der Käfig der Last der Autos stand.
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