„Die gute alte Celine.“ Er grinste. „Wie ich sie kenne, hat sie dich vermutlich eher gezwungen, oder?“
Dass wir anscheinend dieselbe Meinung von ihr hatten, ließ meine Sympathie für ihn weiter steigen.
„Ich lasse mich nicht zwingen“, antwortete ich. „Zumindest nicht von ihr.“
Für einen Moment schien das Lächeln auf seinen Lippen wie eingemeißelt. Er musterte mich schweigend, während sich meine Wangen spürbar erhitzten.
Im Hintergrund begann jemand, über den Tisch zu grölen. Ein Lärm, der sogar die Musik übertönte.
Irritiert drehte ich mich um. „Hier scheint sich nicht viel geändert zu haben.“
Sein Blick folgte meinem in Richtung Gröl-Tisch. „Ach, das sind nur Tekko und seine Kumpane. Die sind fast jeden Abend hier und lassen keine Gelegenheit ungenutzt, sich bemerkbar zu machen.“
„Doch nicht etwa Tekko aus Stove?“ Ich versuchte, das Gesicht über dem schwammigen Doppelkinn zu rekonstruieren.
„Genau der. Macht sich ständig an die Leadsängerin heran. Und die wird nicht müde, ihn jedes Mal aufs Neue abzuweisen.“
Plötzlich wurde meine Aufmerksamkeit auf die Bühne gelenkt. Irgendetwas Vertrautes hatte sich in mein Bewusstsein geschlichen.
„Nackte Füße auf heißem Asphalt, Wangen glühen bei Nacht. Heiße Hände, doch ein Herz so kalt. Was hast du mit mir gemacht?“
Die Worte aus dem Mund der Sängerin klangen fremd und doch wie ein Teil von mir. Erst jetzt erkannte ich auch die Melodie. Ein Cover von Inga Siefert. Der Text war fast drei Jahre alt.
„Was ist?“ Nick bemerkte mein Erstaunen.
Langsam schlich sich ein Lächeln auf meine Lippen. „Das ist von mir.“
„Was meinst du?“
„Den Song.“
„Den die Band gerade spielt?“ Er richtete seinen Blick zur Bühne. „Aber singt das im Original nicht so eine rothaarige Verrückte? Inga irgendwas.“
„Siefert“, antwortete ich. „Inga Siefert. Und ja, der Song ist durch sie bekannt geworden. Die Musik ist allerdings von Walter Mazur, aber der Text von mir.“
Nick schaute zu mir, dann wieder zur Bühne, bis sein Blick wortlos an mir haften blieb.
„Hat es dir die Sprache verschlagen?“, fragte ich.
„Na ja.“ Er griff in die Schale Erdnüsse, die zwischen uns stand. „Als du sagtest, du schreibst, hätte ich nicht an so was gedacht.“
„Wer denkt schon an so was?“, antwortete ich lächelnd, ohne den Blick von der Bühne abzuwenden.
Auch wenn es keine meiner besten Textarbeiten war, beeindruckte mich die Tatsache, meine Worte aus dem Mund einer fremden Sängerin zu hören. Zum ersten Mal seit langem überkam mich so etwas wie Stolz. Ich hatte bereits für viele Bands und Musiker gearbeitet und unzählige Worte eins mit der Musik werden lassen, aber dass mich die Früchte meiner Arbeit auch in Winkeln erreichten, in denen ich es am wenigsten erwartete, erfüllte mich mit einem überwältigenden Gefühl der Zufriedenheit.
Das war sie, meine Passion. Meine Leidenschaft. Ganz egal, wie sehr mich die Erfahrung mit Piet aus der Bahn geworfen hatte, ganz gleich, wie sehr ich in den letzten Monaten gelitten hatte – an dieser einen Aufgabe, meiner Aufgabe, änderten all diese Dinge nichts. Ich lebte für die Worte. Und die Worte lebten – auf ihre Weise – für mich.
„Schöner Text“, sagte Nick leise.
„Danke“, sagte ich. „Ich hatte ihn fast vergessen.“
Die Küche stellte sich als besonders angenehmer Arbeitsplatz heraus. Vom Tisch aus, der am Fenster stand, konnte man direkt auf das Wasser hinausschauen. Aus dem Augenwinkel bildete es die ideale Kulisse für den Text, an dem ich gerade schrieb, und für die schwermütige Stimmung, die er erzeugte.
Ich las erneut die ersten beiden Strophen auf meinem Laptop. Noch immer fehlte mir ein eingängiger Text für den Refrain. Die Wortfetzen, die sich bisher dafür zusammengefunden hatten, gefielen mir zwar, trotzdem war ich nicht sicher, ob sie für den wichtigsten Teil des Songs einprägsam genug waren.
Ich will atmen
Ich will schreien
Will mich spüren ohne dich
Lass mich atmen
Lass mich schreien
Auf dem Weg zum neuen Ich
Ich versuchte, mir Piets Stimme hinter diesen Zeilen vorzustellen. Die Art, wie er Vokale in die Länge zog, war charakteristisch für seinen Gesang. Und eine Angewohnheit, die mir in Momenten wie diesen immer wieder in den Sinn kam. Ich liebte es, ihn singen zu hören.
Ein Windzug riss mich aus den Gedanken. Die Fliederblüten in der Vase neben dem Laptop bewegten sich, doch als ich zum Fenster schaute, bestätigte sich meine Vermutung, dass es geschlossen war. Woher war der Windhauch gekommen?
Das Echo einer Stimme, diesmal die eines Mannes, schien für den Bruchteil von Sekunden durch den Raum zu schweben.
Ich liebe Celine. Ich verstehe nicht, wie ich sie derart hintergehen konnte.
Die gerade erst verblassten Gedanken an Piets Stimme ließen mich für einen Moment annehmen, dass es seine Worte waren, die sich in mein Bewusstsein geschoben hatten. Aber die Wahrheit war, dass ich die Stimme nicht kannte.
Was um Himmelswillen hatte es damit auf sich? Irgendetwas sagte mir, dass ich nicht verrückt war, dass es eine Erklärung geben musste für diese seltsamen Geschehnisse, auch wenn ich nicht ahnte, wie diese aussah.
Tatsache war, dass mich die unerklärlichen Wortfetzen nur im und um das Haus heimsuchten, nicht etwa in Percys Tanzscheune. Aber wie konnte mir diese Erkenntnis weiterhelfen?
Der Windzug war mittlerweile abgeflaut, sodass ich mich für einen Moment fragte, ob ich ihn mir vielleicht nur eingebildet hatte.
Ich versuchte, mir die Worte erneut ins Gedächtnis zu rufen. Erst jetzt fiel mir der Name auf, den die Stimme genannt hatte.
Celine.
Möglicherweise dieselbe Celine, die mich gedrängt hatte, zum Flohmarkt zu kommen?
Was hatte das alles zu bedeuten? Und warum war ich mittlerweile an einem Punkt angekommen, da ich mich weit weniger darüber wunderte, als ich eigentlich sollte?
Ich schaute auf mein Handy, das auf der Küchenvitrine lag. Celines Anekdote über die Wunschfarben ihrer Handys kam mir in den Sinn. Sie hatte sich pink gewünscht, ihr Mann dunkelblau. Seltsam, dass ich mich ausgerechnet jetzt daran erinnerte.
Ja, natürlich, der Flohmarkt. Ob Celine jetzt noch dort war? Ich schaute auf die Uhr. Kurz nach elf. Hatte sie nicht etwas von neun bis achtzehn Uhr gesagt?
Für einen Moment zögerte ich, schließlich hatte mir der Gedanke, sie in absehbarer Zeit wiederzusehen, noch am Tag zuvor Magenschmerzen bereitet. Jetzt schien mir jedoch jede Möglichkeit, den verwirrenden Worten zu entkommen und auf diese Weise vielleicht sogar eine Antwort zu finden, Grund genug, um ihrer Einladung zu folgen.
*
„Ich wusste, dass du kommen würdest.“ Freudestrahlend rauschte sie hinter ihrem Schuhstand hervor.
„So etwas lass ich mir doch nicht entgehen“, antwortete ich mit stumpfem Lächeln.
Mit einer kurzen Umarmung begrüßte sie mich. Ihr Atem roch nach Himbeerbonbons und Zigaretten. Als ich ihre Hände auf meinem Rücken spürte, hatte ich für einen kurzen Augenblick den Eindruck, ihr etwas schuldig zu sein. Aufrichtigkeit. Freundlichkeit. Oder zumindest ein bisschen mehr Mühe bei dem Versuch, ihr diese vorzuspielen.
„Und? Hast du dich schon umgesehen?“, fragte sie.
„Allzu viele Stände gibt es ja nicht“, antwortete ich. „Und um ehrlich zu sein, bin ich auch gar nicht konkret auf der Suche nach etwas.“
„Der Sinn von Flohmärkten liegt ja auch nicht im Suchen, sondern im Finden von Dingen, von denen man bisher nicht wusste, dass man sie braucht.“ Sie lächelte wie nach dem Aufsagen eines Gedichts, während ich mich fragte, warum ich eigentlich gekommen war.
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