Der weitere Weg führte sie in ein kleines, von der Wehrmacht besetztes Dorf. Spätabends kamen die Soldaten erschöpft und unterkühlt in dem Örtchen an. Gruppenweise teilten sie sich auf die wenigen intakt gebliebenen Häuser auf. Als Roland und die übrigen Kameraden der zweiten Gruppe ihre zugeteilte Unterkunft betraten, zog ihnen ein Schwall warmer Luft entgegen und es roch nach gekochtem Essen. Andere Kameraden waren bereits seit ein paar Tagen hier und hatten die Bevölkerung in ein paar Gebäuden zusammengetrieben und die übrigen für die Ankunft des neuen Zuges vorbereitet.
Nach einer ordentlichen Portion Gulasch aus dem Feldgeschirr, ließ der Zugskommandant noch einmal zu einer Befehlsausgabe am Dorfplatz antreten. Die Sonne war schon längst am Horizont verschwunden. Temperaturen weit unter minus dreißig Grad machten das Atmen schwer. Die Ansprache fiel kurz und prägnant aus. Von nun an herrschte Krieg und es war jederzeit mit Kampfhandlungen zu rechnen. Anspannung lag in der Luft, da niemand genau wusste, wo es nun hinging und was die kommende Zeit bringen sollte.
Die nächsten Tage verbrachte der Zug in diesem Dorf, bis die restlichen Truppen eingetroffen waren und der Nachschub funktionierte. Roland nutzte die Zeit, um sich mit Kameraden zu unterhalten und er lauschte vielen interessanten Erzählungen, die unter bereits länger Dienenden ausgetauscht wurden. Die Gemeinschaft hier war anders als jene bei der Grundausbildung. Der Zug bestand aus Männern verschiedenster Generation. Die Frischlinge, wie die neu Eingezogenen genannt wurden, schauten sich von Beginn an etwas von den Älteren ab. Viele von ihnen hatten bereits Kampferfahrungen gesammelt und stießen mit ihren Berichten von der Front bei den Neuankömmlingen auf hellhörige Ohren.
Roland nutzte die Wartezeit außerdem, um Briefe in die Heimat zu schicken und auch Andi schrieb seinem Vater. Als die beiden eines Abends vor einem bescheidenen Feuer beisammen saßen, ergriff Roland die Gelegenheit, um Andi von der Schwangerschaft Lillis zu erzählen. Er wollte es ursprünglich noch eine Weile für sich behalten, doch er hatte das dringende Bedürfnis, mit jemandem darüber zu sprechen und wer würde sich dafür besser eignen als sein bester Freund.
Dieser nahm die Neuigkeit mit großer Überraschung auf. Nachdem sie einige Zeit damit zugebracht hatten, die Situation zu analysieren, meinte Andi entschlossen, er wolle der Taufpate werden. Roland hätte sich keinen Geeigneteren wünschen können und auch Lilli würde mit dieser Wahl überaus zufrieden sein. Roland war froh, die Neuigkeit endlich mit jemandem teilen zu können und die Last, die er seit Empfang der Neuigkeit empfand, war soeben erheblich leichter geworden.
»Noch ein Grund mehr, für den es sich zu kämpfen lohnt, um wieder nach Hause zu kommen«, merkte Andi an.
Im Laufe der Zeit breitete sich allmählich Unruhe im Lager aus, da niemand wusste, wie es nun weitergehen sollte. Mittlerweile befand sich eine gesamte Kompanie in dem Dorf. Von etwaigen Russen gab es bisher keine Lebenszeichen.
»Der Iwan schlägt überraschend und genau dort zu, wo du es am wenigsten erwartest«, prophezeiten indessen viele der älteren Soldaten.
Fast jeden Abend saßen Roland und einige seiner gleichaltrigen Kameraden versammelt in der Stube und lauschten ähnlichen Weisheiten. Roland hörte mit großem Interesse den kampferprobten Soldaten zu. Es waren Erfahrungen, die in keinem Lehrbuch standen und die einem durchaus nützlich sein konnten.
Jede Nacht vor dem Einschlafen sah Roland seine Heimat vor Augen, die nun tausende Kilometer weit entfernt lag. Er hatte das Gefühl, als wüchse die Distanz von Tag zu Tag, doch er war sich stets sicher, dass er wieder heimkehren würde.
»ALARM, ALARM!«
Roland war schlagartig hellwach. Adrenalin durchströmte seinen Körper. Blitzschnell sprang er aus dem Bett und schnappte sich ein paar Sachen zum Anziehen. Intuitiv griff er nach seiner Waffe und stürmte nach draußen. Es herrschte pures Chaos. Soldaten liefen planlos umher, Offiziere brüllten Befehle in die eisige Nacht. Aus der Ferne ertönte gewaltiges Artilleriefeuer.
»Jetzt ist es soweit«, dachte sich Roland, während er Ausschau nach seinen Kameraden hielt. Aus dem Augenwinkel sah er Kainz herbei stürmen, hinter ihm liefen Hartl und Andi quer über den Dorfplatz.
»Dritte Gruppe, hier sammeln!«, rief Oberfeldwebel Schmied in die aufgescheuchte Menge.
»Wir werden angegriffen. Der Iwan ist nur mehr ein paar Kilometer weit entfernt. Packen Sie schnellstmöglich alles zusammen und machen Sie sich kampfbereit!«
Die Männer stürmten los. In Windeseile verstaute Roland seinen Besitz und die Ausrüstung im Rucksack und rüstete sich für den bevorstehenden Kampf. Er atmete einmal tief durch, während er ein volles Magazin an seine Waffe ansteckte, dann hastete er nach draußen. Sobald die zwölf Mann starke Gruppe beisammen war, ging es im Eilschritt in Richtung des angrenzenden Waldes. Noch schwer außer Atem, bezogen die Soldaten zugewiesene Stellungen.
Roland verschanzte sich in seiner Deckung und beobachtete gespannt das Vorfeld. Erst jetzt hatte er etwas Zeit zu realisieren, was in den letzten Minuten geschehen war. Sein Körper funktionierte automatisch und befand sich im Ausnahmezustand. Die bitterkalte Luft schmerzte heftig in den Lungenflügeln. Neben ihm ging ein deutscher Kamerad in Anschlag. Kein Wort wurde gesprochen.
Das Artilleriefeuer war erloschen und beängstigende Stille kehrte ein. Jedes Knistern wurde peinlich genau verfolgt. Rolands Herz raste wie wild.
Stunden vergingen und der Sonnenaufgang stand kurz bevor. Die Körper der Soldaten zitterten aufgrund der brutalen Kälte. Jeder Atemzug schmerzte in der Brust. Das Warten auf das Ungewisse zermürbte den Verstand. Dann, urplötzlich, schlug die erste Granate ein. Mit einem ohrenbetäubenden Knall detonierte sie wenige hundert Meter weit entfernt. Gleich darauf folgten weitere. Trotzdem war weit und breit kein Angreifer zu sehen.
Ein paar Geschosse trafen das Dorf und legten ganze Häuser in Schutt und Asche. Der Anblick war beängstigend. Die ungeheure Wucht der einschlagenden Geschosse ließ Roland erschaudern. Er sah nach rechts und bemerkte, wie auch seinem Kameraden die Panik ins Gesicht geschrieben stand. Die Granaten explodierten mit ohrenbetäubendem Lärm unweit vor ihnen. Roland zitterte im Angesicht des bevorstehenden Gefechts. So war es also, im Krieg zu sein. Das Gefühl hatte nichts Heroisches an sich und schnell wurde ihm klar, dass es von nun an ums nackte Überleben ging. Es gab kein Zurück.
»Jetzt nur nicht die Nerven verlieren«, dachte er sich, während er ein paar Mal ein- und ausatmete. Ein dumpfes Brummen durchzog den steifen Untergrund. Es wurde immer lauter und brachte den Boden immer stärker zum Zittern. Mehr und mehr Panzer tauchten plötzlich an der Geländekante auf. Roland kam mit dem Zählen nicht mehr hinterher. Es mussten fast zwanzig sein. Dazwischen lauerte eine beängstigende Anzahl an Soldaten.
»FEUER!«
Projektile schossen aus den Mündungen der Gewehre und aus allen Stellungen bekämpfte man den näher rückenden Gegner. Panzerabwehrrohre sollten die übermächtigen Stahlkolosse zähmen. Auf dem Schlachtfeld fielen indessen Soldaten wie Schachfiguren um. Über den Köpfen der zum Teil kampfunerprobten Männer prasselte das Sturmfeuer der Russen. Roland machte sich so klein, wie er nur konnte. Er gab ein paar ungezielte Schüsse ab, ehe er sein Gesicht wieder auf den harten Boden drückte. Angst und Panik drohten ihn zu übermannen. Nie zuvor hatte er eine Waffe gegen einen Menschen gerichtet, alles war so anders, als noch während der Ausbildung.
Für einen kurzen Moment schloss er die Augen. Von Ferne her gellten schmerzerfüllte Schreie. Roland war völlig überfordert. Er fühlte sich fremdgesteuert, als stünde er weit neben sich. Hinter ihm schrie der Oberfeldwebel Kommandos an seine Soldaten, während das Abwehrfeuer der deutschen Truppen von allen Seiten auf die Sowjets niederschlug.
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