Dass sie sich dieselbe Dokumentation zum Paarungsverhalten von Hirschen zehn Mal ansah, passte zu ihr, fand Géraldine. Abend für Abend tönten, sobald die Dämmerung sich über die Stadtrandstille stülpte, dieselben Geräusche herüber. Géraldine versuchte die Geräusche auszublenden, was ihr ansatzweise gelang, wenn sie die Zeitung oder ein Buch las. Mit der frischen Nachtluft drangen nach neun aber auch die Brunstgeräusche überdeutlich ins Zimmer, und an Schlaf war nicht zu denken. Géraldine dachte sich bitterböse, verletzende Kommentare aus, die sie nicht erleichterten, wusste sie doch, dass sie sich scheu wegducken würde, sollte es zu einer direkten Begegnung mit der Nachbarin kommen.
Es war ein Sonntag, der dritte schlaflose Sonntag in Folge. Géraldine lehnte müde im Fensterrahmen, starrte hinaus auf die Wiese. Und dann sah sie sie. Zwei Hirsche, Hirsch und Hirschkuh, spielten im spärlichen Licht der Mondsichel ein uraltes Spiel; er umwarb sie und sie zierte sich, um sich am Ende seinen Wünschen zu fügen.
Besänftigt, wenn auch ohne Ruhe, verzichtete Géraldine am Montagabend darauf, das Licht anzuzünden. Sie öffnete stattdessen das Fenster, genoss die Kühle des hereinbrechenden Abends und wartete.
Leise wurde im oberen Haus die Tür ins Schloss gedrückt, Hand in Hand und eng aneinander geschmiegt traten die dickliche Frau und der viel jüngere Mann hinaus ins Mondlicht und gingen barfuss über die taufeuchte Wiese.
Ihre Gestalten verschwammen, verwandelten sich, und Hirsch und Hirschkuh, die unverkennbar ihre und seine Züge trugen, spielten eine Weile das alte Spiel vom Werben und Neinsagen und Jasagen, bevor sie sich aneinanderschmiegten, um sich lautstark zu paaren.
Jack war Roberts Hund. Es war der Hund, der ihr dies deutlich zu verstehen gab. Er erlaubte ihr zwar, ihn zu füttern und seinen Schlafplatz sauber zu halten, aber damit hatte es sich auch schon. Jack verachtete Sylvia für alles, was sie tat, auch wenn sie es zu seinen Gunsten tat, denn Robert, den Sylvia noch immer liebte, verachtete sie ebenfalls, denn er hatte schon vor langer Zeit das Interesse an ihr verloren.
Es wurde Sylvia nie erlaubt, mit Jack spazieren zu gehen. Wenn sie ihn rief und ihm die Leine zeigte, streifte sie sein Blick voller Hochmut und Langeweile. Jack blieb auf seiner Decke liegen und wartete, wartete auf Robert. Nur mit ihm ging er aus dem Haus. Herr und Hund warteten, bis die Dämmerung hereinbrach. Dann schulterte Robert sein Gewehr, und der Hund stiess ein heiseres, lustvolles Heulen aus. Das waren die Momente, in denen Robert glücklich aussah, und Herr und Hund wechselten einen verschwörerischen Blick.
Jetzt war Robert tot. Sylvia erklärte es dem Hund wieder und wieder. Wie eine Litanei betete sie es herunter, geduldig, monoton. «Er kommt nicht wieder. Er ist tot, erschossen von einem seiner ‚guten Kollegen’, einem Wilderer wie ihm. Jagen kann man nicht nennen, was sie taten, denn es war illegal.»
Jack musterte sie lauernd. Er nahm die traurige Bitterkeit ihrer Stimme wahr. Er registrierte auch, dass sie nicht weinte. Menschen weinten, wenn sie traurig waren. Sylvia aber weinte nicht. Jack beobachtete ihre zunehmende Versteinerung, die sich ins Unermessliche steigernde Verzweiflung darüber, dass ihr zur Gesellschaft nur ein Hund geblieben war, der sie nicht liebte. Sie konnte nicht anders, als Robert zu lieben, noch immer zu lieben, obwohl sie für sein Leben bedeutungslos geworden war.
Ganz kurz schwankte der Hund. Sollte er ihr die feuchte Schnauze aufs Knie legen, um sie zu trösten? Er seufzte, liess es bleiben, und sie fuhr in ihrem Monolog fort, der nun zornige Töne annahm.
«Sicher jagt er nun woanders. Irgendwo soll es ewige Jagdgründe geben. Hierher kommt er jedenfalls nicht zurück. Er ist tot, verstehst du? Er wurde erschossen wie ein Hirsch, der einen fatalen Schritt tut, hinaus in die Lichtung. Du brauchst nicht auf ihn zu warten. Er wird nicht wiederkommen. Nicht für mich und auch nicht für dich.»
Der Hund warf ihr einen seiner Blicke voller Hohn und Verachtung zu. Er seufzte und legte den Kopf auf die Pfoten. Er wartete. Er wusste es besser.
Sie stellte ihm den gefüllten Fressnapf hin, und während er Fleisch und Haferflocken verschlang, schüttelte sie seine Decke aus, wischte Erdkrümel zusammen, legte die Decke zurück auf den sauberen Platz und schlug säuberlich die Ecken ein. Der Hund legte sich mit vollem Bauch zurück auf sein Lager und tat, als schliefe er. Wenn er schlief, redete sie nicht mit ihm.
Die Zeit verging. Aus Tagen wurden Wochen. Sylvia begann, an Jacks Hundeverstand zu zweifeln. Sie nannte ihn ‚dummer Hund’, und erklärte ihm wieder und wieder mit mehr oder weniger Geduld, dass Robert nicht zurückkommen werde, niemals. Robert war tot. Jack sollte das endlich begreifen.
Aber Jack begriff nicht. «Er ist ein Hund, nichts weiter als ein Hund», dachte Sylvia. «Sein Vermögen, Tatsachen zu erfassen, auszuwerten und zu speichern, ist beschränkt. Robert hielt viel von Jack, aber es bleibt dabei: Er ist nur ein Hund!» Und Jack wartete. Wenn es dämmerte, wurde er unruhig. Sie hörte das Rasseln seines Halsbandes und seine tapsenden Schritte von der vorderen Haustür zur hinteren und wieder zurück.
Abend für Abend ging das so, und am Ende war es Jack, der Recht behielt. Einer wie Robert lässt seinen Hund nicht im Stich! Das Datum – es war der siebzehnte Oktober – brannte sich in Sylvias Gedächtnis ein. Für den Rest ihres Lebens würde sie wissen, dass der siebzehnte Oktober der Tag war, an dem Robert kurz nach halb neun zur Tür hereinpolterte. Jack heulte, heiser, lustvoll. Wie Sylvia diese hemmungslose, blutdürstige Lautäusserung hasste! Robert leinte den Hund an, schweigend, und verliess mit ihm das Haus. Benommen wischte Sylvia die erdigen Abdrücke seiner groben Schuhe von den Fliessen.
Robert und Jack jagten. Nacht für Nacht machten sie das weitläufige Waldgebiet unsicher, das gleich hinter dem Haus begann. Gegen Morgen – es war noch dunkel – öffnete Robert die Haustür. Er betrat das Haus nicht, liess nur Jack durch den Türspalt schlüpfen. Jack streckte sich auf seiner Decke aus und schlief. Manchmal zuckten seine Pfoten im Schlaf, ein Knurren drang aus seinem geschlossenen Fang, und unter den Lidern geisterten Träume von flüchtendem Wild. Meist tapste er erst gegen Mittag in die Küche. Das Futter, das Sylvia ihm hinstellte, nahm er gnädiger an als früher. Auch musterte er sie nicht mehr mit der gleichen Verachtung. Sein Blick war nach innen gekehrt und seine Miene strahlte Genugtuung und Zufriedenheit aus.
Als Robert zum ersten Mal Beute auf den Küchentisch legte, in der Erwartung, dass diese zubereitet und serviert werde, begannen die Dinge, sich zu wiederholen, und es machte sich eine Art Alltag breit. Sylvia war eine gute Köchin. Vor langer Zeit, als Robert sie noch liebte, hatte er ihre fantasievollen Zutaten zum Wild, vor allem aber das Preiselbeerkompott, das sie aus selbst gesammelten Beeren herstellte, gerühmt und genussvoll verzehrt. Auch heute ass er noch mit Genuss. Sylvia hörte sein Schmatzen und das Klappern von Besteck. Jack lag unter dem Tisch und wartete auf die Fleischreste, die für ihn abfallen würden. Nie setzte sich Sylvia mit an den Tisch. Sie liess dem Gelage seinen Lauf, zog sich ins Schlafzimmer zurück, sobald sie annehmen konnte, dass alle Wünsche erfüllt waren. Sie schlief im Schaukelstuhl, da sie es nicht wagte, sich ins Bett zu legen, während ein stummer Gast und ein Jagdhund im Hause waren. Sylvia zählte die Wochen und Monate nicht. Robert und Jack wurden nicht älter, ihr aber sahen frühmorgens grau werdende Haare über einem müden Gesicht aus dem Spiegel entgegen.
Den Wunsch, den Hund los zu werden, gab es. Er begann klein und verschämt, und das einzige, was Sylvia am Schmieden von konkreten Plänen hinderte war die Angst, Robert, Jack oder beide könnten Gedanken lesen und Rache üben.
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