Noch länger hätte sie verweilen mögen, doch ein Blick auf die Uhr, die in der Kabine an der Wand hing, erinnerte sie daran, dass sie mit ihren Abendvorbereitungen noch lange nicht fertig war. Außerdem musste sich Pascal auch noch frisch machen.
Sie stellte sich vor den großen Spiegel und föhnte ihr schulterlanges rotblondes Haar. Danach legte sie dezent Schminke auf und parfümierte sich. Ein letzter Blick in den Spiegel: Sie nickte ihrem Spiegelbild zu. Ihr sportlich durchtrainierter Körper, mit Brüsten, nicht zu groß, nicht zu klein, ähnelte dem harmonischen Bild einer klassischen Statue. „Du kannst dich sehen lassen, Leonie Lambert“, bescheinigte sie zufrieden ihrem Spiegelbild. Sie verließ das Bad, um es Pascal zu überlassen.
Als sie den Schlafraum betrat und er sie in ihrer verlockenden Nacktheit erblickte, konnte er nicht anders, als nach ihr zu greifen. Sie entwand sich ihm jedoch und machte ihn auf die fortgeschrittene Uhrzeit aufmerksam. Widerstrebend knurrte Pascal: „Beschwere dich nachher nicht, dass ich dich vernachlässige!“
Lachend gab sie zurück: „Wer hat denn vorgezogen, eine Stunde zu schlafen? Ich hätte schon Lust gehabt … Nun beeil dich ein bisschen, sonst gehe ich ohne dich in die Oper.“
Sie entnahm dem Koffer ihre hauchzarten Dessous, mit denen sie ihre elfenhafte Sinnlichkeit Geltung verlieh, und streifte sie über. Darüber ein neues, raffiniert geschnittenes Kleid, das sie sich erst neulich zugelegt hatte, lang, schwarz, figurbetont, im Schulterbereich und Dekolleté verführerisch freizügig. Dazu wählte sie ein buntes Seidentuch, um ihre Schultern zu bedecken, und hochhackige Sandaletten. Als Schmuck legte sie eine schlichte Goldkette mit einem Bernsteinherzen an. Eine letzte kritische Begutachtung im Spiegel: perfekt!
Leonie bemerkte erst, dass Pascal bereits eine Weile nackt in der Tür stand und sie bewunderte, als er murmelte: „Umwerfend. Ich bin hin- und hergerissen.“
„Umwerfen kannst du mich später“, wehrte sie ihn ab, als er auf sie zukam. „Vergiss nicht, dass wir in die Oper wollen! Deswegen sind wir doch hier.“
Als auch Pascal endlich angekleidet war, wie immer ohne Krawatte – einen Smoking besaß er nicht einmal, hätte ihn auch niemals getragen –, fragte er grinsend: „Tragen dich diese Schuhe die paar Meter unfallfrei hinüber ins Opernhaus oder soll ich ein Taxi kommen lassen?“
„Blödmann, wenn schon erwarte ich, dass du mich trägst“, entgegnete sie, schnappte nach ihrem Handtäschchen mit den Utensilien, ohne die sie niemals das Haus verließ, und ging los.
Die Temperatur draußen war noch angenehm warm, die meisten Besucher, die auf das Opernhaus zuströmten, waren sommerlich elegant gekleidet.
Als sie sich in den Besucherstrom einreihten, fiel Leonie auf, dass man sie immer wieder verblüfft anstarrte und zu tuscheln begann. Sie dachte sich nichts dabei, hatte sich längst daran gewöhnt, Aufmerksamkeit zu erregen. Als ihr Blick auf das Plakat fiel, das den Fliegenden Holländer ankündigte, fuhr sie zusammen. Sie blieb stehen, ihre Augen konnten sich von dem Aushang nicht lösen. Sie erbleichte.
„Ist dir nicht gut?“, fragte Pascal, dem die plötzliche Veränderung nicht entgangen war.
Leonie reagierte auf seine Frage nicht, schien sie nicht einmal vernommen zu haben, stierte nur auf das Plakat und rührte sich nicht von der Stelle.
„Leonie!“ Er griff nach ihrem Oberarm. „Was ist los mit dir?“
Sie erwachte aus ihrer Starre und setzte sich mit weichen Knien wieder in Bewegung.
„Oh, entschuldige bitte, es ist alles in bester Ordnung. Lass uns unsere Plätze einnehmen. Ich bin sehr auf die Aufführung gespannt.“
Pascal schüttelte den Kopf, ging aber nicht weiter auf ihr merkwürdiges Verhalten ein.
Als sie Platz genommen hatten, versank Leonie ins Grübeln. Konnte es Zufall sein, was sie auf dem Plakat gesehen und was sie aus der Fassung gebracht hatte? Sie vermeinte sogar, eine innere Stimme zu vernehmen, die ihr bekannt vorkam. Der Holländer, den die Ankündigung zeigte, sah genauso aus wie der Mann, der ihr in letzter Zeit immer wieder in ihren Träumen erschienen war und nach ihr gerufen hatte. Zudem hatte die Senta in dieser Besetzung, Inga Persson, eine unverkennbare Ähnlichkeit mit ihr, was selbst Pascal aufgefallen war. Was ging hier vor? Sie hatte noch nie an Zufälle geglaubt.
Das Erscheinen des Dirigenten und die sofort einsetzende Ouvertüre unterbrachen für einen Moment ihr Grübeln, doch es gelang ihr nicht, in die Musik einzutauchen, wie es sonst immer der Fall war. Ihr Kopf war nicht frei, ihr Herz pochte wild. Sie fürchtete gar, dass die Leute, die neben ihr saßen, das Pochen vernehmen konnten.
Als im ersten Akt der Holländer die Bühne betrat und seinen großen Monolog anstimmte, davon sang, dass seine Frist um sei, war es um sie geschehen. Godfree gestaltete den Mann, von dem sie seit Wochen träumte. Er war der Geheimnisvolle, der mit ihr in Verbindung getreten war: die hagere Gestalt, die langen schwarzen Haare, die bis auf seine Schultern reichten, vor allem dieser stechende, hypnotisierende Blick. Unfassbar diese Ähnlichkeit!
Wie konnte dieser Sänger in ihre Träume gelangt sein, obwohl sie ihn nie zuvor gesehen hatte, nicht einmal auf einem Foto? Oder war er ein Zwilling ihrer Traumerscheinung? „Die Frist ist um“, hatte er bei seinem Auftritt gesungen. War es nur die Rolle, die er zu verkörpern hatte, oder war sie gemeint, war sie angesprochen, galt die Botschaft ihr? Oder war alles nur das Trugbild eines verwirrten Geistes, ihres Geistes? Befand sie sich auf dem Weg, verrückt zu werden? Nahmen Dämonen von ihr Besitz? Dazu ihre verblüffende Ähnlichkeit mit der Senta auf der Bühne.
Kalte und heiße Schauder liefen abwechselnd ihren Rücken hinunter. Als der erste Akt beendet war und die Lichter aufleuchteten, kam es ihr vor, als wäre sie gerade aus einem Albtraum erwacht.
Wie aus weiter Ferne hörte sie Pascals Stimme: „Wollen wir ein Glas Sekt trinken, Liebes?“
„Ja, gerne“, antwortete sie automatisch, „stell dich schon mal an, ich gehe derweil mal für Damen. Du weißt schon.“
Sie musste sich dringend ein wenig frisch machen, aufgewühlt, wie sie sich fühlte. Ihr Gesicht war von den Eindrücken, die auf sie einwirkten, mit einem feinen Schweißfilm überzogen. Auch im Toilettenraum bemerkte sie die heimlichen Blicke, die auf sie gerichtet waren, konnte den Grund inzwischen allerdings nachvollziehen. Als sie wieder ins Foyer hinaustrat, wartete Pascal bereits mit zwei Gläsern in der Hand auf sie. Sie gesellte sich zu ihm, nahm dankbar das Glas entgegen und leerte es in einem Zug.
„Hat dich der Holländer so durstig gemacht?“, fragte er schmunzelnd. „Die Luft ist in der Tat ziemlich trocken im Parkett. Noch ein Glas Sekt oder lieber ein Wasser?“
„Wasser, bitte“, antwortete sie geistesabwesend. Pascal reihte sich in die Wartenden vor der Getränketheke ein.
„Wie gefällt dir der Godfree? Du bist bei Gesangssolisten gewöhnlich ja noch kritischer als ich“, fragte er, nachdem er mit einer Flasche Wasser zurückgekommen war.
Leonie erschrak. Das hatte Pascal nicht verdient, dass sie so geistesabwesend war. „Seine Stimme ist gut“, versuchte sie sich auf den Small Talk zu konzentrieren. „Irgendwie sehr erotisch, finde ich. Er verkörpert die Rolle, als hätte Wagner sie für ihn geschrieben.“
„Höre ich da ein Aber?“
Leonie überlegte einen Moment, wie sie sich ausdrücken sollte, bevor sie den Satz vollendete: „Aber er ist mir irgendwie …“, sie zögerte unsicher, „unheimlich.“
„Unheimlich? Geht die Fantasie mal wieder mit meiner schönen Frau durch? Die Rolle an sich ist unheimlich, zumindest in den Augen von Seeleuten.“
Leonie ließ die Frage offen, der Gong rief sie zurück auf ihre Plätze.
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