Als sie die Tür hinter sich geschlossen hatten, griff der Bürgermeister zu seinem Telefon und wählte eine mehrstellige Nummer.
„Die Lebenspartner der beiden verschwundenen Touristen stellen überall Fragen. Das ist nicht gut. Wie sollen wir uns verhalten?, fragte er in den Hörer.“
Er lauschte aufmerksam der Antwort und nickte beflissen mit dem Kopf.
„Und noch etwas: Ich kann nicht gutheißen, dass der Wagen dieses Belgiers benutzt wird.“
Wieder hörte er seinem Gesprächspartner zu, wobei sich sein Gesicht rot färbte. Nachdem er aufgelegt hatte, ließ er sich auf seinen Stuhl fallen.
„Das kann so nicht weitergehen“, brummelte er in seinen Bart, griff nach einer Cognacflasche in seinem Schreibtisch und nahm gierig einen großen Schluck. „Aber was kann ich dagegen machen? Ich bin nur der Bürgermeister und habe mich nach den herrschenden Gesetzen zu richten“, sprach er sich Trost zu.
Auf der immer noch verlassenen Dorfstraße angelangt, fragte Sophie: „Was halten Sie von unserem Gespräch?“
Pascal war sich nicht sicher, wie er seine Eindrücke einordnen, erst recht nicht, wie er sie formulieren sollte, ohne Sophies Ängste, aber auch eigene zu schüren. Es gelang ihm nicht, seine unguten Ahnungen zu verdrängen.
„Was meinen Sie?“, antwortete er mit einer Gegenfrage, um Zeit zu gewinnen. Noch wollte er über seine Zweifel nicht sprechen, nicht, solange kein einziger konkreter Anhaltspunkt vorlag, der die schlimmen Befürchtungen bestätigte.
„Wird der Bürgermeister uns eine Hilfe sein können?“
„Ich habe eher den Eindruck, dass er es als seine vordringlichste Aufgabe ansieht, uns zu beruhigen. Ich denke, wir sollten selbst die Initiative ergreifen und jeden, der uns über den Weg läuft, befragen.“ Er sah sich skeptisch um. „Na gut, vielleicht könnten wir auch durchs Gelände streifen, wenn wir niemandem begegnen. Lassen Sie uns aber erst einmal zum Berghof zurückgehen, um nachzusehen, ob meine Frau endlich zurück ist. Sie wird sicherlich gerne bei der Suche nach Ihrem Verlobten behilflich sein.“
Mit gemischten Gefühlen eilten sie zum Gasthof zurück. Am Empfang war niemand zu sehen, als sie eintrafen. Weder Leonie, ganz zu schweigen Yves waren wieder aufgetaucht. Sie läuteten, aber erst nach etwa einer Viertelstunde erschien Bruckner mit hochrotem Kopf und sichtbar ob der Störung verärgert. Er hatte ebenfalls keine Neuigkeiten für sie.
Pascal bat den Wirt, das Telefon des Gasthofs benutzen zu dürfen, da er einen dringenden Anruf vorzunehmen habe und die Mobiltelefone offensichtlich keinen Empfang hätten.
„Tut mir leid“, sagte Bruckner, „wir haben seit gestern eine Störung. Das passiert hier oben in den Bergen leider immer wieder und schadet nicht nur uns, sondern auch dem Tourismus, wie ich einräumen muss. Wahrscheinlich haben die Murmeltiere am Kabel geknabbert, oder bei den Straßenbauarbeiten ist die Leitung beschädigt worden. Wer weiß das schon? Ich gebe Ihnen Bescheid, sobald das Telefon wieder funktioniert. Dann können Sie selbstverständlich gerne telefonieren.“
Pascal wurde das Gefühl nicht los, dass er log.
„In diesem verdammten Kaff stimmt etwas nicht!“, raunte er Sophie zu. „Wir werden jetzt die Zeit nutzen und von Haus zu Haus gehen, um alle Leute zu befragen, die wir antreffen. Irgendjemand muss doch etwas gesehen oder bemerkt haben. Ich hatte eben auf unserem Weg hierher den untrüglichen Eindruck, dass wir von jedem Haus aus beobachtet wurden. Mit der Gendarmerie sollten wir beginnen, um uns zu erkundigen, welche Maßnahmen sie bisher ergriffen hat oder welche weiteren sie zu ergreifen gedenkt. Vor allem möchte ich gerne wissen, ob der Herr Bürgermeister ihr wirklich Dampf gemacht hat. Vielleicht können wir ja behilflich sein.“
„Geben Sie mir, bitte, ein paar Minuten, Herr Lambert“, bat Sophie. „Ich möchte etwas anderes anziehen.“
„Gerne. Ich warte draußen unter dem uralten Bergahorn vor dem Haus. Der scheint hier schon ebenso lange zu stehen wie die Berge.“
„Das haben Sie schön gesagt“, meinte Sophie. „Alte Bäume könnten sicher viele Geschichten aus vergangenen Zeiten erzählen.“
Pascal nickte, ging nach draußen und setzte sich auf die verwitterte Holzbank unter dem knorrigen Baum, während Sophie auf ihr Zimmer ging.
Ihre Zimmertür stand offen. Befremdet trat sie ein und hörte jemanden im Bad hantieren. Sie stieß die Tür auf und fand Ines auf dem Boden kniend die Fliesen schrubben.
„Schöne Unterwäsche haben Sie, Madame“, bemerkte Ines unverfroren und machte kein Hehl daraus, dass ihr in den Zimmern nichts entging.
„Ich wäre Ihnen sehr verbunden, wenn Sie gefälligst Ihre Finger von meinen Sachen ließen, sonst müsste ich mit Ihrem Chef darüber sprechen“, konterte Sophie verärgert und bedachte die Bedienstete mit einem vernichtenden Blick.
Ines war jedoch nicht zu erschüttern. Bevor sie das Zimmer verließ, sagte sie: „Eines Tages werde ich mir auch schöne Wäsche leisten können, eines nicht mehr fernen Tages.“
Sophie tauschte ihr Kleid gegen Jeans und einen leichten Pullover aus. Sie überprüfte ihr Aussehen mit einem flüchtigen Blick in den Spiegel, richtete ihre Haare mit den Händen, griff nach einem kleinen Rucksack und verließ das Haus. Pascal saß auf der Bank und versuchte vergeblich, eine Telefonverbindung mit seinem Handy herzustellen.
Als Sophie ihn bei diesem Versuch sah, bemerkte sie: „Das können Sie sich sparen, Herr Lambert. Der Mobilfunk funktioniert hier nicht. Erst im kommenden Jahr soll eine zuverlässige Empfangsstation errichtet werden, wurde mir versichert. Ich finde, Handys sollten überall in den Bergen funktionieren, allein schon, um in Notfällen die Bergwacht herbeirufen zu können, aber man scheint es damit hier wohl nicht allzu eilig zu haben.“
„Sie haben vollkommen recht“, ereiferte sich Pascal. „Ich überlege bereits, ob wir nicht in die Kreisstadt fahren sollten, um die übergeordneten Behörden in Kenntnis zu setzen, dort Hilfe zu erbitten und auf die Missstände hier aufmerksam zu machen.“
„Ihnen ist doch sicher bei der Herfahrt die Baustelle beim Anstieg zum Dorf nicht entgangen? Hat man Sie nicht informiert, dass die Straße ab heute für zwei oder drei Tage gesperrt werden muss, falls es nicht noch länger dauern wird. So lange wird das Dorf von der Außenwelt abgeschnitten sein!“
„Nein, hat man nicht, aber das passt durchaus ins Bild. Umso mehr sollten wir uns bemühen, unsere eigenen Nachforschungen voranzutreiben. Sie sind zwar nicht motorisiert, solange Ihr Verlobter nicht zurück ist, ich verfüge aber über einen geländegängigen Wagen, mit dem wir die Umgebung absuchen können.“
„Danke für Ihr Angebot. Das Verschwinden von Yves ist das Schlimmste, was mir hier widerfahren konnte. Solange keine Gewissheit besteht oder ich ihn wieder in die Arme schließen kann, ist an eine Heimreise nicht zu denken. Ich fühle mich hier gefangen.“
„Lassen Sie uns nicht den Teufel an die Wand malen, dafür gibt es noch keinen konkreten Grund, Sophie. Darf ich Sie Sophie nennen?“
„Ja, gerne, das wollte ich Ihnen schon längst angeboten haben.“
„Ich heiße Pascal. Wir sind also durchaus mobil, vorausgesetzt, dass wir uns mit einer ausreichenden Menge Diesel versorgen können. Eine Tankstelle habe ich nämlich hier nirgendwo gesehen. Ich hoffe, dass die Bauern uns notfalls aushelfen. Sie bunkern gewiss Treibstoff.“
„Wo wollen wir mit der Suche beginnen, Pascal?“
„Zuerst gehen wir zur Gendarmeriestation, um uns dort nach dem Stand der Dinge zu erkundigen. Sie wissen, wo sich die Station befindet?“
„Ja, natürlich. Kommen Sie!“
Energisch setzte sie sich in Bewegung. Pascal musste sich mühen, um mit ihr Schritt zu halten.
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