„Was soll das, Ash? Sei lieber vorsichtig … sie ist Seths Neue … da du deine Chance offensichtlich verpasst hast … mal wieder!“
Leyla ist furchtlos! Sie verteidigt mich, und ich würde ihr am liebsten dafür um den Hals fallen.
Aber Ash lässt sich von ihr nicht aus der Ruhe bringen. „Manchmal muss man Dinge aufgeben, auch wenn es nicht leichtfällt.“
Ich kann nicht sprechen. In Ashs Augen sehe ich Verbitterung. Ich bin ihm nicht egal … aber eben auch nicht wichtig genug.
Plötzlich steht Seth neben ihm und raunzt ihn an. „Halte dich fern von ihr, klar? Oder hast du dich anders entschieden? Noch ist Zeit … noch habe ich sie nicht angerührt.“
Ash starrt ihn an, und ich bete darum, dass er sich anders entscheidet als gestern. Doch er wendet sich ab und geht. Seth packt mich am Arm. Seine Augen sind schwarz wie Kohlenstücke. Jede Mäßigung ist aus seinem Gesicht verschwunden. „Was hattet ihr miteinander zu sprechen? Was hat er zu dir gesagt?“
„Nichts … verdammt, Seth … lass sie los … Sie hat nichts getan, und er wollte nur einen Drink!“ Leyla setzt sich schon wieder für mich ein. Tatsächlich lässt Seth mich los, und sein Gesicht entspannt sich. „Also gut … aber du wirst dich von ihm fernhalten. Ihr habt nichts mehr miteinander zu schaffen.“
Als ich mich an diesem Abend auf dem Sofa in Seths Loft zusammenrolle, bin ich froh, wenigstens Sid nicht begegnet zu sein. Aber das wird sich auf Dauer nicht vermeiden lassen. Und ich frage mich, wie lange es brauchen wird, bis die Transformation von Luana abgeschlossen ist – denn ich weiß: Dann bin ich fällig!
Die nächsten beiden Wochen verbringe ich in ständiger Angst. Ich beobachte Luana, der es immer schlechter geht. Ich bin mir sicher, dass es bald soweit ist. Dann braucht Seth eine neue Spenderin. Seth jagt Luana jetzt täglich die Injektionsnadel in die Vene. Eigentlich müsste ihr Körper schon längst kollabiert sein. Aber er kämpft noch gegen die Transformation an.
Letztens hat Seth sie sich sogar zweimal an einem Tag vorgenommen. Ich schätze, ihr Körper produziert nicht mehr genügend Hämophol. Ich kann sehen, wie Seth mich mustert. Er ist unzufrieden, aber noch hält er an Luana fest.
Manchmal lässt er mich abends mit Leyla im Tenfathers Drinks ausschenken. Ich funktioniere wie eine Maschine. Leyla blickt mich besorgt an. „Wie oft zapft er Luana eigentlich an?“
„Mittlerweile fast zweimal täglich“, antworte ich müde.
„Dann ist es bald soweit.“ Leyla weiß, dass ich leide, und seltsamerweise hat sie mich von Anfang an ins Herz geschlossen.
„Wenn Seth zu mir kommt, sterbe ich“, gebe ich leise zu.
„Gib nicht auf, Taya.“ Sie legt mir ihre Hand auf den Arm. Eine sanfte, tröstende Berührung. Ich sehe die kleine Tätowierung an ihrer Hand. Es ist das Zeichen ihres Besitzers Saron. Eine Art geschliffener Edelstein. Ich habe Saron nur einmal von Weitem im Tenfathers gesehen. Er sieht asiatisch aus und hat langes dunkles Haar. Ein schöner Mann, nachdenklicher und ruhiger als die meisten Mutanten. Leylas Augen leuchten, wenn er sie ansieht, und er sieht sie an, wie Ash mich angesehen hat. Das tut weh!
Saron gehört wie Seth und Ash der Loge an. Und Leyla ist sicher bei ihm. Ich beneide sie um das Zeichen auf ihrer Hand.
Heute ist die Stimmung im Tenfathers seltsam gereizt … ich kann es nicht genau benennen, doch ich kann die Unruhe der Anwesenden spüren. Und dann geschieht das, wovor ich am meisten Angst habe. Sid betritt das Tenfathers , in seinem Arm eine Blondine mit langen glatten Haaren. Sie ist zierlich für eine Mutantin und trägt einen knallengen Overall aus schwarzem Thermowax. Mein Gott, das ist Angel? Sie sieht aus, als wäre sie gerade mal Achtzehn! Kein Wunder, dass Sid ihr verfallen ist. Sie schmiegt sich an ihn, und Sid ist aufgekratzt. Ich starre auf die künstlichen Farbstoffe, die ich gerade für die Cocktails nachfülle, und beobachte die beiden weiter aus dem Augenwinkel.
Sie setzen sich an einen der Tische weit weg von der Bar, und Angel legt ihre Hand auf Sids Schoß. Von dort aus lässt sie ihre Hand langsam zwischen seine Beine wandern, um dann mit hartem Griff die Stelle zu massieren, wo sie sein Glied weiß. Ash sieht gequält aus, müde und ausgelaugt. Doch ihrem Drängen kann er sich nicht entziehen. Diese Mutantin ist ein Dämon mit einem Engelsgesicht. Und Sid ist auf sie hereingefallen.
„Was ist denn?“ Luana bemerkt meine Nervosität.
Ich nicke in Richtung des Tisches, an dem Sid und Angel sitzen. „Mein Bruder ist hier. Wenn er mich sieht, rastet er aus. Und dann bringt Seth ihn um.“
„Er weiß nicht, dass du hier bist?“
Ich zucke die Schultern. „Wahrscheinlich denkt er, ich sei mit einem Mutanten durchgebrannt. Wir hatten Diskussionen deswegen, bevor Seth mich verschleppen ließ.“
Plötzlich stößt Leyla mich in die Seite und nickt in Richtung des Eingangs. Mein Herz setzt augenblicklich aus. Ich habe Luana seit gestern Abend nicht mehr gesehen. Sie hat die Nacht nicht bei Seth verbracht. Das hätte mich misstrauisch machen sollen. Aber nun ist sie hier! Nichts ist mehr von der fahlen Gesichtshaut oder den müden Ringen unter ihren Augen geblieben. Luana wirkt zeitlos schön, viel strahlender noch, als sie es an dem Abend war, als sie mich an Seth verkauft hat.
„Sie hat es geschafft“, seufzt Leyla, und ihr Blick wandert erneut zum Eingang. „So ein Mist … ein Unglück kommt selten allein!“
Ich folge ihrem Blick mit den Augen und muss ihr recht geben. Hinter Luana hat Ash das Tenfathers betreten. Er sieht in meine Richtung, kommt aber nicht zu uns, sondern verschwindet in einen Bereich, wo ich ihn nicht sehen kann. Meine Augen wandern umher. Ich muss Sid im Auge behalten … und Ash. Keinem von beiden will ich begegnen.
Kurz darauf kommt Luana zu uns. „Hallo Taya … wie geht’s?“
Als ob sie das interessieren würde.
„Hast du dich gut bei Seth eingelebt?“, fragt sie und ich meine, so etwas wie Bitterkeit in ihrer Stimme zu hören.
Leyla erkennt die brenzlige Situation und lächelt Luana zu. „Herzlichen Glückwunsch, Lu! Du siehst blendend aus.“
Luana bedenkt sie mit einem Lächeln. „Hat lange genug gedauert, und war nicht einfach.“
„Hm ...“, bestätigt Leyla und beugt sich dann über den Tresen zu ihr herüber. „Unter uns, Lu … was passiert hier eigentlich gerade? Die scheinen alle ziemlich angespannt. Saron will mir nichts sagen.“
Luana überlegt. Scheinbar weiß sie Bescheid, aber da sie jetzt zur anderen Seite gehört, mag sie ihre Geheimnisse nicht mehr mit Leyla teilen.
„Komm schon, Lu! Um der alten Zeiten willen“, fordert Leyla sie lächelnd auf. Sie kneift ihr ein Auge, und Lu gibt nach. Scheinbar waren die beiden mal so etwas wie Freundinnen.
„Die Rebellen machen mal wieder Ärger … und dieses Mal sind sie hartnäckiger als sonst. Ich schätze, wir werden ihnen einen kleinen Denkzettel verpassen müssen. Seth hat uns zusammengerufen, um das zu besprechen.“
„Dann wird Seth den Trupp selbst führen?“ Leyla wirft mir einen vielsagenden Blick zu. Das würde mir zumindest einen kleinen Aufschub gewähren.
Читать дальше