„Schlau wie er ist“, warf Michael Zeitz ein, „ist ihm zuzutrauen, dass er keine Konvertiten für dieses Geschäft benutzt hat. Aber wo befindet sich Rasha Orit zur Zeit?“
„Wie ich schon erwähnte, hat sie ihren Standort während ihrer Reise ab und zu mit einem GPS-Signal übermittelt. Diese Signale wurden aber immer schwächer und seltener. Gestern abend meldete sie sich mit einem Com. Diesen Anruf konnten wir zurückverfolgen, er kam aus Barking im Londoner Osten. Den Straßennamen konnte sie uns nicht nennen, weil es am Freitagabend fürchterlich geregnet hat und die Seitenscheiben des Wagens stark verkratzt waren. Dadullah steuerte den Wagen, er ist in eine Tiefgarage gefahren, und von dort haben sie einen Aufzug genommen. Sie sagte noch, sie sei in einer Wohnung im zehnten Stock, die Wohnungstür habe kein Namensschild, sie könne aber die Züge hören. Wir vermuten, dass sie sich in einem der Blocks an der Salisbury Straße aufhält. Das Auto war ein Lieferwagen, eine chinesische Marke. Vermutlich wurde in dem Wagen etwas transportiert, aber Orit weiß nicht, was sich in dem Stauraum befand.“
„Konnte sie noch irgendetwas zum elften September sagen?“ fragte ein anderes Mitglied der Bonner Gruppe.
„Nein. Sie weiß nicht, welches Objekt für den Anschlag ausgewählt wurde.“
„Dadullah hat seine Reiseroute bisher geschickt gewählt“, bemerkte Bouvier, „vermutlich wird er uns auch morgen überraschen. Ich könnte mir vorstellen, dass zwei Bomben vorbereitet wurden und dass er in wenigen Stunden spontan entscheidet, welche er zünden will.“
„Die umständliche Reiseroute hatte aber auch einen entscheidenden Vorteil für uns“, warf Thornton ein. „Auf der Fähre von Esbjerg nach Harwich hatten wir Kontakt mit Rasha Orit. Sie ist jetzt im Besitz von zwei Mikrosendern. Wenn nicht alles schief geht, werden wir in der Früh jeden Schritt der beiden verfolgen können.“
„Warum hat sich unsere Agentin auf dieses Risiko eingelassen? Ist sie wirklich zuverlässig?“ fragte ein Engländer, der erst vor kurzem zu der Gruppe gestoßen war.
„Sie ist Jüdin, hat ihre Kindheit in Jerusalem verbracht und kennt die Mentalität der arabischen Fundamentalisten sehr gut. Sie würde sich nie umdrehen lassen. Außerdem“, erläuterte Killoren, „handelt es sich um ein Gegengeschäft. Ihr Vater hat sich auf eine dubiose Geschichte in Südafrika eingelassen und sitzt seit einem Jahr in einem Gefängnis in Botsuana. Der israelische Geheimdienst hat versprochen, ihn herauszuholen, wenn ihre Informationen helfen, das Attentat zu verhindern.“
„Soll Dadullah festgenommen werden, sobald wir ihn aufspüren?“ fragte der Bonner Agent, der am liebsten auch schon die beiden Engländer in Tivetshall St Mary verhaftet gesehen hätte.
„Nein, um die Bombe zu finden, müssen wir ihm folgen.“
„Das ist ein hohes Risiko! Wenn es euch nicht gelingt, ihn aufzuhalten …“
„Annecy wird ihn aufhalten, da bin ich ganz sicher“, unterbrach ihn Michael Zeitz, der bisher nur zugehört hatte.
„Wer ist Annecy?“ erwiderte der Agent, den Zeitz unterbrochen hatte, und der zu der neunköpfigen Gruppe gehörte, die noch nie etwas von Solveig Solness gehört hatte.
Zeitz blickte fragend zu Bouvier und Thornton. Bouvier nickte: „Zeitz, fassen Sie kurz zusammen und berichten Sie über den aktuellen Stand.“
„Annecy kann ihn aufhalten, wenn sie weiß, wo er sich befindet; sie verfügt über besondere Fähigkeiten. Sie ist seit zwei Wochen in London und befindet sich zur Zeit in der Wohnung einer Freundin in Putney. Sie wird um fünf Uhr aufstehen und auf unsere Anweisungen warten.“
„Ein Auto mit Fahrer“, ergänzte Thornton, „steht vor der Tür, und ein Hubschrauber wartet startbereit in der Nähe auf einem abgesperrten Platz. Er kann sie in kurzer Zeit zu jeder Stelle in London bringen.“
„Noch eine Frau?“
„Ja.“
„Das kann ich mir nicht vorstellen.“
„Manthey“, fuhr Bouvier ungeduldig dazwischen, „es ist so, wie Zeitz es gesagt hat, sie kann es.“ Manthey war über diese Zurechtweisung ziemlich verärgert, sagte aber nichts mehr.
„Sobald wir ein Signal von Rasha Orit erhalten, wird Annecy im Hubschrauber sein“, nahm Thornton das Gespräch auf, „und von vier Scharfschützen begleitet werden. Außerdem halten sich Spezialisten zum Aufbrechen von elektronisch gesicherten Türen bereit.“
„Wenn Orit nicht sendet …?“ meldete sich Manthey zurück.
„Die Frage ist berechtigt. Auf die Chance, Mansur Dadullah rechtzeitig zu finden, dürfen wir uns nicht verlassen“, sagte Thornton, „es könnte ja zum Beispiel sein, dass Dadullah sie in der Wohnung zurücklässt, vielleicht sogar umbringt. Er gilt als unberechenbar. Ich glaube, Samar Aljawi muss aktiv werden.“
Bouvier nickte und antwortete: „Das sehe ich genauso. Ich habe ihn vorab informiert und werde ihn gleich anrufen.“
Kapitel 40: 3.00 Uhr: Samar Aljawi wird aktiv
Als fünf Minuten später Aljawis Ohrstöpsel summte, war er sofort auf den Beinen. Seit Mitternacht lag er in Erwartung eines Anrufs angezogen auf seinem Bett. Noch während er Bouviers Stimme hörte, ging er ins Nebenzimmer, weckte zwei Agenten des israelischen Geheimdienstes, die dort schliefen, und machte einen starken Kaffee. Weitere zehn Minuten später verließ die kleine Gruppe in einem Fahrzeug mit Elektroantrieb das Altstadtviertel. Auf einer Ausfallstraße fuhr Aljawi nach Osten in Richtung Jericho und bog gegen drei Uhr dreißig auf eine Schotterstraße ab. Nach zwei Kilometern hörte die Straße auf und verzweigte sich in mehrere unmarkierte Pisten, an denen in unregelmäßigen Abständen kleine Häuser standen. Obwohl es keine Straßenlampen gab und obwohl Aljawi nur mit Standlicht fuhr, fand er sein Ziel. Er kannte die Strecke, die Schlaglöcher, die Felsbrocken und die ausgebrannten oder ausgeschlachteten Fahrzeuge, darunter auch Lastwagen und Busse, die an oder auf der Piste standen. Unmittelbar nach der ersten Fahrt, die Raisa mit Ronit unternommen hatte, hatte er Raisa Takris Wohnung ausgekundschaftet, eine Skizze des Hauses mit Türen und Fenstern angefertigt, und vor einer Woche war er die Strecke noch einmal abgefahren. Er fuhr an dem Haus vorbei, wendete und parkte an einer verdeckten Stelle zwischen Bauschutt und Müll. Auf der Rückseite drangen die Männer in das kleine Haus ein, knebelten die Mutter, stülpten ihr Kopfhörer über die Ohren, zogen ihr eine Kapuze über das Gesicht und fesselten ihre Hände auf dem Rücken. Während einer der Männer mit dem nicht behinderten Sohn gleichermaßen verfuhr, durchsuchte Aljawi das Haus, fand aber keine Aufzeichnungen oder sonstigen Hinweise. Aljawis Männer trugen Raisa Takri und den Sohn zum Wagen und legten sie in den Kofferraum. Den behinderten Sohn ließen sie zurück – er schlief fest und würde später keine Aussage machen können.
Auf der Rückfahrt wurde der Wagen einmal von einer Polizeikontrolle angehalten. Aljawi behielt die Ruhe, aber seine Männer entsicherten ihre Pistolen. Glücklicherweise gab ihnen der Polizist nur einen Warnhinweis auf eine Fahrbahnsperrung in einer Kreuzung, die sie umfahren konnten.
In Aljawis Gemüseladen angekommen, trugen die Männer Takri und ihren Sohn durch den Tunnel in das Haus auf der israelischen Seite. In einem der Kellerräume, den Aljawi für das Verhör vorbereitet hatte, setzten die Männer ihre Gefangenen auf zwei Stühle und fesselten sie so, dass sie weder die Beine noch die Arme bewegen konnten. Nachdem die beiden anderen Männer den Raum verlassen hatten, nahm Aljawi Raisa Takri die Kapuze, die Kopfhörer und die Augenbinde ab. Inzwischen war es drei Uhr achtundfünfzig europäischer Zeit.
Als Raisa die Augen öffnete, sah sie vor sich einen Tisch, auf dem eine Axt, ein Hammer, mehrere Messer und Zangen sowie eine Spritze lagen. Hinter dem Tisch stand ein Stuhl, zu dem ein Mann ging, der eine Gesichtsmaske trug. Da er einen Knebel und Kopfhörer in den Händen hatte, musste er der Mann sein, der ihr sie eben abgenommen hatte. An der gegenüberliegenden Wand hingen Fotos verschiedener Moscheen, das Foto in der Mitte zeigte die Kaaba und den Innenhof der großen Moschee in Mekka. Über den Fotos war ein grünes Tuch befestigt, auf dem in Arabisch ein Vers aus der dreiunddreißigsten Sure gedruckt war: Wer ist es, der euch vor Gott beschützen kann, wenn er euch Böses zufügen oder Barmherzigkeit erweisen will?
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