»Lass ihn dir bloß nicht die Zunge ins Ohr stecken«, sagt Aja und zischt ab. An der Ecke der Sporthalle angekommen sieht sie gerade noch, wie Flash in die Toiletten einbiegt. Geduldig wartet sie vor dem Jungenklo. Eine Sekunde lang.
Unter den ungläubigen Blicken einer Handvoll Jungs läuft sie durch den nach künstlichen Rosen und echtem Tabak stinkenden Eingang in den Raum mit den Pinkelblüten. Neben den topmodernen wasserlosen, aber defekten Pissoirs stehen Eimer mit Wasser zum Nachspülen. Neben einem der Eimer steht Flash, den Rücken, Gott sei Dank und Diener, Aja zugewandt. Sie sind allein.
»Keine Bewegung«, ruft Aja. Flash erstarrt. »Die Hände dahin, wo ich sie sehen kann.«
Nach kurzem Zögern hebt Flash die Hände in Höhe seines Kopfes. »Stimmt, ich nutze deine Lage aus. Hör zu. Wir haben beide weder Stein- noch Holzbock auf Insein für Aussätzige . Und unsere Chancen gegen die Chicks sind kleiner als die kleinsten Zahlen, die Herr Hakimeh uns je beigebracht hat. Trotzdem werde ich tun, was ich kann, damit ihnen der Sieg schwerer fällt als ein großer Bogen ums Fashion Outlet. Dieselbe Leidenschaft erwarte ich von dir. Klar?«
Flash nickt. Hat es ihm die Sprache verhagelt? Soll ihr recht sein.
»Und meine Beine sind mehr als nur okay. Klar?«
Er nickt.
»Ich will ein angemessenes Adjektiv hören.«
»Wohlgeformt?«
Sie macht ein Furzgeräusch.
»Hüb... nein, superkalifragilistischexpiallegetisch?«
»Lasse ich gelten. Weitermachen.« Sie dreht sich zur Tür und geht, doch im Vorraum fällt ihr noch etwas ein und sie geht zurück. »Zeigst du eigentlich nie deinen Hintern beim Pinkeln?« Flash zuckt zusammen. »Ich meine, keiner von euch Jungs lässt die Hose komplett runter? Wovor habt ihr mehr Angst, vor Bewunderung oder vor Spott?«
Flash greift sich den nächsten Eimer und wirbelt herum, und bevor Aja erkennen kann, ob sie etwas erkennen könnte, schwappt ihr ein fliegender Tsunami entgegen. Kreischend springt sie zurück und in jemanden hinein.
»Aja?«
WC-Spülwasser triefend dreht sie sich um.
Tizian.
»Das kann ich erklären«, sagt sie und schweigt und Tizian sieht mit diesem feinen Grinsen auf sie herunter, nach dem sie so verrückt ist. Frech und neckisch schief hockt das kleine Hütchen in seiner Stirn. Und sie steht vor ihm wie ein bepisster Hydrant.
»Ich habe sie getauft«, sagt Flash. »Das ist so Sitte in den USA, du kennst das ja. Man macht ein Projekt zusammen und gibt sich während des Projekts einen Kampfnamen, machen die da alle an der Highschool.«
»Cool«, sagt Aja und meint vor allem Flashs flashige Schlagfertigkeit.
»Ja, klar«, sagt Tizian. »Und wie ist dein Kampfname?«
»Den wissen natürlich nur die Projektler«, sagt Flash rasch und lacht total künstlich.
»Ist natürlich alles Aberglaube«, kommt Aja ihm zu Hilfe.
»Aber es macht total Spaß«, ergänzt Flash.
»Das sehe ich«, sagt Tizian und stupst mit dem Daumen den Hut nach hinten.
»Was ist da drin los?«, gellt eine Mädchenstimme von draußen.
»Ich komme, Emm.« Er tippt an seine Stirn, sagt, »Wir sehen uns«, und geht.
»Projekttaufe?«, sagt Aja.
»Herr Sarytchew hat mich inspiriert.«
»Dann gehen wir mal und tun so. Aber«, sie zupft an seinem Hemd, unter dem er ein T-Shirt trägt, »dieses Hemd wird beschlagnahmt und mir geborgt. Projekt Trockensein für Klatschnasse . Los, ausziehen.«
»Oh, sorry, ich wollte nicht stören.« Tizian streckt seinen Kopf herein. »Ich wollte dir noch was sagen, aber das hat Zeit.«
Und er zwinkert ihnen zu und er geht und er tut so ... als wären sie und Flash ein Paar.
Halleluja.
Die Geliebte des Donnergottes
»Wirf deine Satteltaschen da drauf, Cowboy.« Aja deutet auf die schäbige Matratze, auf der schon ein Schlafsack liegt. Ansonsten ist das Schlafzimmer ihres Vaters bis auf ein Paar alte Kinosessel unter Kleiderhaufen leer. Es riecht verhalten nach Eselstall.
Flash lädt seine Fahrradtaschen und seinen Schlafsack neben die Matratze. Der andere Schlafsack ... Aja will, dass sie hier zusammen die Nacht verbringen! Die Nächte bis zur Abgabe ihres Projekts! Er spürt die Wärme, die von ihrem Körper ausgeht. Ihr Anblick ist in seine Netzhaut gebrannt: Das lange braune Haar hat sie in zwei Pferdeschwänze gebändigt, ihren zierlichen Körper in ein schwarzes T-Shirt über Jeans gezwängt, ihre Füße sind nackt. So stellt er sich Sif vor, die Geliebte des Donnergottes Thor.
»Daheim kann ich nicht bleiben«, sagt Aja. »Sabine hat den Eiermann bei sich aufgenommen. Allein die Vorstellung, wie er halbnackt und mit frisch polierter Glatze aus dem Bad kommt ... igitt! « Sie geht zum Fenster, reißt es auf – Danke! – und setzt sich auf die Fensterbank. »Falls du irgendwelche über die Atemwege übertragbaren Krankheiten hast, wäre jetzt ein guter Zeitpunkt zur Beichte.«
Flash winkt grinsend ab. Seiner Mutter hat er auseinandergesetzt, wie hart sie für das Projekt arbeiten müssen. Unmöglich könne er den halben Tag damit verschwenden, von ihrem Hof in die Stadt und zurück zu radeln. Aja? Die würde selbstverständlich bei sich zu Hause schlafen.
Keine Lüge, sondern der glücklichste Irrtum seines Lebens!
»Fassen wir mal zusammen, wo wir mit dem Projekt stehen«, sagt er. »Am Freitag in einer Woche ist Abgabe ...«
»Und wenn wir nicht mindestens eine Zwei kriegen, darf ich den Bildungsetat ein Schuljahr länger belasten.«
»Im Ernst?«
Aja spuckt zum Fenster hinaus, wartet zwei Sekunden, dann: »Mist, daneben.«
»Das ist also unser Stall«, sagt Flash und wird rot. »Ich meine, unser Hauptquartier.« Und der Ort, an dem es vielleicht passieren wird. Wenigstens hat er das nicht auch noch Philomena versprechen müssen.
Aja springt von der Fensterbank und geht aus dem Zimmer.
»Ein Künstler wie Paps braucht eine freie Umgebung, Platz für seine Ideen und Visionen.«
»Klar«, sagt Flash. Am Kopfende der Matratze hat Ajas Vater ein paar kleine Fotos an die Wand gepinnt. Eins davon zeigt einen attraktiven, schnurrbärtigen Mann mit zwei kleinen Kindern. Rasch folgt er Aja ins Wohnzimmer.
»Er ist kein Alki«, sagt sie. »Er ist bloß sensibler, als gut für ihn ist.«
Ihm gefällt, wie Aja ihren Vater verteidigt. Sogar die Bude gefällt ihm. Liebe betäubt neben dem Fluchtinstinkt also auch die Geruchsnerven. Ein Schaukelstuhl, der nicht mehr schaukelt, ein Sofa, dessen Sprungfedern wie Kaffeeringe durch den fadenscheinigen Stoff schimmern und zwei Boxen von der Größe der Twin Towers in New York. Mit dem Unterschied, dass diese Boxen locker ein paar abstürzende Flugzeuge verkraften würden. Ansonsten Schallplattenhüllen und Pizzaschachteln. Nicht leicht zu entscheiden, wo eine Vinyl-Platte und wo eine Pizza drin war. Oder ist.
»Gadds weißrussische Putzfrau ist billig, aber blind«, sagt Aja. »Damit das klar ist: Wir treffen uns nur hier, damit keiner uns dauernd zusammen sieht und die Gerüchteköche ein Sechs-Gänge-Beziehungsmenü plus spöttischem Gruß aus der Küche und Alles-Käse-Platte daraus zaubert. Klar?«
»Klar«, sagt er. »Dreck ist out, Ma’am, selbst im Wilden Westen. Wo ist die Mistgabel?«
»Erstens: Recherche«, sagt Flash und schnappt sich rosa Gummihandschuhe über die Finger. »Und zweitens: Schreiben. Diese Woche recherchieren wir beide, ab Montag wird geschrieben. Du stehst in Deutsch auf Zwei, ich auf Vier, das heißt, du schreibst, ich recherchiere, was dann noch fehlt.«
»Gut.« Aja fährt Flashs Laptop hoch. Sie sieht das Gerät misstrauisch an. »Da kriege ich auch keine gewischt?«
»Was?«
»Vergiss es.«
»Das ist ein hochmodernes Gerät! Da sind lauter wichtige Sachen drauf, und normalerweise gebe ich ihn nicht aus der Hand, niemandem, nie. Ich hoffe, du weißt das zu schätzen.«
Читать дальше