Offensichtlich war es so, dass ihr Vorgang von der Justiz inzwischen an die Gestapo übergegangen war, mit welchen Zwischenstufen auch immer. Und tatsächlich entspricht diese Vorgehensweise den in dieser Zeit üblichen Gepflogenheiten. Wurden bis dahin in der Wortwahl der Polizei- und Justizbehörden Berufsverbrecher, Antisoziale, Asoziale und Politische akribisch getrennt, so begann der Wortgebrauch ab 1942 immer mehr zu verschmelzen. Außerdem ging es den Behörden des faschistischen Staates darum, die Verfügungsgewalt über die Masse der fremdländischen Arbeiter und Arbeiterinnen zu perfektionieren, die man aus den westlichen und östlichen Kriegsgebieten zur Zwangsarbeit nach Deutschland verschleppt hatte. Darum ging es vor allem auch im Himmler-Erlass vom 28. Mai 1941, der die Handhabung der Einweisung in Arbeitserziehungslager vereinheitlichen wollte, indem er die Gestapo zur einweisungsberechtigten Instanz machte. In dem Erlass heißt es, dass, „wer die Arbeit verweigert oder auf sonstige Weise die Arbeitsmoral gefährdet, in Arbeitserziehungslagern zur Arbeit angehalten werden“ müsse. Nach mehrwöchentlicher Haft im Arbeitslager sollte eine Rückführung an den alten Arbeitsplatz erfolgen, Häftlinge, die die Gestapo als nicht gebessert einschätzte, konnten in Konzentrationslager eingewiesen werden, und es ist nicht auszuschließen, dass meine Tante als ein solcher Fall eingestuft wurde. Waren die Arbeitserziehungslager zunächst noch als eine Vorstufe von Konzentrationslagern anzusehen, verwischten sich in der zweiten Kriegshälfte die Unterschiede. Angesichts des Kompetenzgerangels zwischen Justiz, Kriminalpolizei und Gestapo wird es nicht möglich sein, aufzuhellen, wie der Vorgang, der meine Tante betrifft, von den Berliner Justizbehörden zur Gestapo geraten ist. Vielleicht kam es zu ihrer Einweisung auch im Zuge von Massenverhaftungen, bei denen sich die Arbeitsteilung zwischen Justiz und Gestapo nicht mehr rekonstruieren lässt. Es kann aber auch sein, dass es einen Fakt gab, einen Vorfall, der sie erneut auffällig werden ließ, so dass die Gestapo die Sache an sich zog. Die vollständige Aufhellung dieser Vorgänge ist nicht möglich, sie erscheint aber auch nicht nötig, weil das Ergebnis in jedem Fall das gleiche bliebe: Eine politisch ahnungslose, eigensinnige junge Frau, die etwas auf sich und ihren Beruf hält, vielleicht etwas leichtsinnig und unbedenklich ist, gerät in die Mühlen des NS–Zwangssystems, in dem Menschen in Lagern verschwinden und zu Tode kommen. Neben rassistisch motiviertem Völkermord und Verfolgung politischer Gegner, organisierte das faschistische Regime mit äußerster Rücksichtslosigkeit die maximale Verwertung menschlicher Arbeitskraft, um die mörderische Kriegsmaschinerie in Gang zu halten. Es garantierte der Rüstungsindustrie damit hohe Gewinne.
In dem bereits erwähnten Himmler-Erlass wird festgelegt, dass die Gestapo ihre Informationen über Arbeitsbummelanten durch Meldungen zu bekommen hatte, die ihr von Arbeitgebern, Arbeitsämtern und Reichstreuhändern der Arbeit zuzugehen hatten. Wahrscheinlich trifft die von Lucie überlieferte Version für einen frühen Zeitpunkt ihrer Geschichte zu, die davon gesprochen hat, dass Friedchen sich mit ihrem Chef angelegt habe. Eine Recherche in dieser Richtung könnte zusätzliche Informationen erbringen. Wenn es mir gelänge, Aufschlüsse über den Betrieb zu gewinnen, in den man sie verpflichtet hatte, käme ich einem weiteren Element des funktionierenden Gesamtsystems auf die Spur. Denn die Überwachungs- und Verwaltungsstellen des Staates brauchten, um zu funktionieren, Zuträger. Ohne Menschen, die bereit waren, andere bei entsprechenden Stellen zu melden, hätte der Apparat nicht funktionieren können. So bekommen die mir von meinem Cousin überlieferten Worte seiner Mutter noch eine zusätzliche Dimension, die weitergehende Fragen provozieren.
In welchem Betrieb musste sie arbeiten? Wer war wohl dieser Chef, und zu welcher Kategorie von Zeitgenossen hat er gehört? Und ich denke mir, er muss nicht unbedingt ein überzeugter Nazi gewesen sein, der eine junge Frau, die es mit der Arbeitsdisziplin nicht so recht ernst nahm, als Arbeitsbummelantin seinem Vorgesetzten meldete. Denn er musste sich gegenüber der Betriebsführung für die Erfüllung des 2. Vierjahresplanes, der die Kriegswirtschaft auf Hochtouren zu bringen hatte, verantworten, und da galt jeder Verstoß gegen Arbeitsdisziplin als Sabotage. Möglicherweise war er ein ordentlicher Arbeiter, dem strikte Pflichterfüllung ein unumstößliches Gebot war und der sich ärgerte über den Schlendrian, den Leichtsinn der jungen Frau, die ihm vielleicht noch patzige Artworten gab, wenn er sie zur Rede stellte. Wenn er mit den Folgen seiner Meldung je konfrontiert worden wäre, wäre er vielleicht sehr erschrocken. Das hatte er nicht gewollt, nur eine Lehre wollte er ihr erteilen in ihrem Hochmut. Oder aber es war ein Mann, der ihr möglicherweise nachgestiegen ist, ihr den Hof gemacht hat. Sie hatte ihm vielleicht sogar, etwas kokett, wie sie sicherlich gewesen ist, wie alle eitlen Mädchen, Hoffnungen gemacht und er sah sich dann, als er sich ihr nähern wollte, brüsk abgewiesen, so dass er sich tief gekränkt fühlte in seiner Mannesehre und nicht mehr gewillt war, zu übersehen, dass sie öfter zu spät die Arbeit begann oder vielleicht auch, unentschuldigt gar, nicht erschienen war. Nein, jetzt würde er Meldung machen, er hatte genug, und er war durchaus nicht unzufrieden, dass der Anlass seiner Kränkung ihm nicht mehr vor die Augen trat. Sie war fort und Schwamm drüber, und er vergaß sie schnell. Niemals wäre er auf die Idee gekommen, zu fragen, wo sie den abgeblieben war. Es beschäftigten sich nun andere mit ihrem Fall, glücklicherweise, die war er los. Hätte man ihn irgendwann mit ihrem Schicksal konfrontiert, hätte er wahrscheinlich sich nur dunkel erinnern können, an eine Frau solchen Namens, wenn er nicht überhaupt bestritten hätte, sie jemals gekannt zu haben.
Der 20. Juni 1942, an dem sie nach Ravensbrück kam, war ein Sonnabend. Das habe ich mir nach den Regeln des ewigen Kalenders errechnet und finde es beim Lesen der Zeitungen aus jenen Tagen bestätigt. Die Berliner Presseerzeugnisse finde ich im Getreidespeicher des Westhafens, in dem die Deutsche Staatsbibliothek seit einiger Zeit ihren Zeitungsbestand untergebracht hat. Mit dem „Völkischen Beobachter“ anfangend, nehme ich die „Berliner Morgenpost“, die „Berliner Allgemeine Zeitung“, die „Berliner Illustrierte Nachtausgabe“, den „Lokalanzeiger“, das „Berliner Tageblatt“, die „BZ am Mittag“ und noch einige andere Blätter zur Hand und begreife, was gleichgeschaltete Presse bedeutet. Auf jeweils 6 Seiten findet man übereinstimmende Front- bzw. Siegesnachrichten, nur die Lokalnachrichten variieren geringfügig. Meine Hoffnung, irgendeinen Hinweis auf solche Transporte zu finden, erweist sich als abwegig. Vielleicht, dass als Abschreckungsmaßnahme über sie berichtet wurde, hatte ich mir gedacht. Aber nichts, nicht der kleinste Hinweis findet sich auf den Tatbestand, den ich suche, obwohl es Nachrichten über Prozesse, über Todesurteile und ihre Vollstreckung gibt. Drastische Strafen für geringfügige Vergehen, man erfährt, wie die Justiz ihren Beitrag zur totalen Mobilmachung leistet. Ein 33jähriger Postbeamter wird zum Tode verurteilt und auch gleich hingerichtet, weil er Zigaretten aus Feldpostpäckchen gestohlen hat. Auf den ersten Zeitungsseiten wird in diesen Tagen vom Sieg Rommels über die Engländer an der Afrika–Front berichtet. Triumphierend wird die Einnahme der in Libyen gelegenen Festung Tobruk verkündet, die als uneinnehmbar galt. Nach eineinhalb Tagen Belagerung war sie von den englischen Truppen nach großen Verlusten an Menschen und Material geräumt worden. Vom Südabschnitt der Ostfront in der Nähe von Sewastopol wird gemeldet, dass die sowjetische Armee große Verluste erlitten habe. Die Zeitungen feierten in diesen Tagen die Versenkung von vier britischen Kreuzern, zwei Bewacher- und Handelsschiffe mit insgesamt 5600 Bruttoregistertonnen waren es. Außerdem wird die Nachricht verbreitet, dass die Attentäter Heydrichs gefasst worden seien, man habe sie beim Angriff auf eine Kirche, in der sie sich verschanzt hatten, erschossen. Man schwelgt in Siegeszuversicht, die Zeitungsschreiber verkünden, dass mit dem Ende des Jahres 1942 auch der endgültige deutsche Sieg kommen werde.
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