Aber damals, zu seiner Zeit, 1914 und vorher und danach auch noch lange, war man noch nicht soweit. Die Militärs nahmen jeden, den sie kriegen konnten. Wobei sich niemand darüber klargewesen sein dürfte, worauf man sich einließ. (Insgeheim dachten wohl die meisten, die Show, die ihnen bevorstand, besäße immer noch den guten, alten Turniercharakter. Edle ritterliche Recken im Kampf um den goldenen Pokal. Wie tausend Jahre früher bei Prinz Eisenherz.)
Wie der Erste Weltkrieg tatsächlich ablief, können Sie, wenn Sie noch gesteigerten Wert darauf legen sollten, daraus ersehen wie sich Hitlers Geisteszustand entwickelte. Was er nämlich machte, er identifizierte sich mit Deutschland; der Kampf der Deutschen gegen die Welt entsprach seinem Kampf mit den Professoren der Wiener Kunstakademie, und als Deutschland den Krieg auf für ihn undurchschaubare Weise verlor, sah Hitler in seiner Psychose darin eine Parallele zu seiner eigenen Niederlage als Maler. Prof Baumgartner: „Wäre Hitler als Maler anerkannt worden, hätten ihn die Schrecken des Ersten Weltkriegs möglicherweise sogar zum Pazifisten werden lassen, denn seine natürliche Empfindsamkeit wäre noch lebendig gewesen. Die Förderung seines Maltalents hätte seiner Identität die zusätzliche Dimension einer gewissen Größe geben können. Eben der Größe des Mitleidenkönnens. Der junge Hitler stieß aber nur auf Abwehr und Ignoranz, also auf absolute Mitleidlosigkeit. Entsprechend mitleidlos musste er sich später zwangsweise gegen andere Menschen und die Menschheit überhaupt verhalten.“
Danach passierte etwas wirklich Komisches. Ich meine, damals, als mein Cousin das zweite Buch herausbrachte. In keinem Land verursachte „HElLT HITLER! DIE PATHOGENESE EINES SÜNDENBOCKS“ besonders viel Aufsehen - es ergänzte einfach nur die Materialien, die von ungefähr hundert Millionen anderen Wissenschaftlern zu diesem Thema erarbeitet worden waren. Nur in Deutschland fielen die Presse und der größte Teil des Wissenschaftsbetriebs (Saul Bellow nennt ihn nicht umsonst eine „Maschine“) über Prof Baumgartner her.
Und alles Leute, die sich sonst vor Analysefreudigkeit rund um die Uhr überschlagen. Prof Baumgartner setzte die hysterische Reaktion auf Hitlers Analyse damals so zu, dass er seitdem auf dem deutschsprachigen Buchmarkt nichts mehr veröffentlichen ließ. Er ist nicht besonders scharf auf Hysteriker - besonders dann nicht, wenn sie nichts weniger als eine ganze Nation bilden, darauf läuft es hinaus.
Außerdem war er immerhin nur zufällig bis zu Hitler vorgedrungen, nachdem ihn ursprünglich nur die morbide Sexualität von Midford & Co. beschäftigt hatte. Er konnte als Wissenschaftler gar nicht anders, er musste ein Thema wie Sex und Faschismus weiterverfolgen. Wer sich mit den gestörten Höheren Töchtern einer puritanischen oder sonstwie kranken Gesellschaft beschäftigt, gerät praktisch in eine Art Drehtür und wird von ihren Eigendynamiken erfasst. Einmal mit Midford & Co. beschäftigt, stieß er ganz automatisch auf den Fall Hitler, der immerhin auch eine ansehnliche Sexualneurose oder Psychose entwickelt hatte. Ein Wissenschaftler kann dann nicht einfach so tun, als wäre nichts weiter gewesen.
Laien verstehen das schlecht. Und reichlich laienhaft und naiv fiel eben die Reaktion der Deutschen aus. Der Fall Hitler sollte in Hinsicht auf die komplexen Hintergründe seiner psychischen und sozialen Pathogenese anscheinend um nichts in der Welt von „draußen“ einer objektiven, sachlichen Analyse unterzogen werden.
Nicht von einem unbefangenen Psychologen. Und schon gar nicht von einem, der keine Nazis als Eltern oder Großeltern hatte.
Hitler war eben etwas Unaussprechliches. Hitler war eben ein Fleisch gewordener Teufel. Ein brauner Zwilling Luzifers, und die Hölle hatte ihn wiedergeholt, Ende April 1945. Das war längst Vergangenheit, und in der Hölle sollte er gefälligst bleiben. Das war so bequem. Die nicht weiter aufgeklärten Menschen hatten Hitler zum bloßen Mythos stilisiert, zur Verkörperung des Bösen schlechthin, und das Böse besitzt weder einen Körper noch eine Psyche, und was es in den Augen der unaufgeklärten Masse schon gar nicht haben darf, ist ein soziales Umfeld, das den Menschen schließlich überhaupt erst zum Monster gemacht hat. Die Deutschen müssen geradezu zwanghaft Hitler zum Ungeheuer stilisieren, also zu einem Wesen, das in Wirklichkeit gar nicht existiert, weil sie sich unbewusst vor ihrem eigenen, persönlichen kleinen Hitler-Anteil fürchten. Er geht auf die Prägungen zurück, die schon hundert Jahre früher der kleine Adolf H. abkriegte. Diese Prägungen kommen je nach der Epoche in allen möglichen Farbtönen daher: Schwarz, Braun, Rot, Grün - aber die Substanz ist mehr oder weniger immer dieselbe: ANGST. GERMAN ANGST. Ein verdammt schlechter Ratgeber: Angst. Und besonders, wenn sie Deutsch spricht.
Als Prof Baumgartner damals sein zweites Buch veröffentlichte, baute er auf Hannah Arendts Untersuchungen über Hitler und den Faschismus, die sie Anfang der 60er Jahre unter dem Titel „Von der Banalität des Bösen“ veröffentlichte. Es wurde sehr erfolgreich, nur dass Hannah Arendt Soziologin war, und aus der Perspektive meines Cousins ließ sie den wichtigen Punkt außer acht, dass das Böse eben kein Geist ist, der frei herum schwebt, sondern im Gehirn sitzt, und das Gehirn ist nicht grade der profanste Teil des Körpers. Was er also machte, er gab Hitler ein halbes Jahrhundert nach dem Tod seinen Körper zurück und ließ ihn durch diesen Körper seine ganze durch fremde Einflüsse verpfuschte Existenz nachleben. Die ganzen traumatischen Erlebnisse, von der Kindheit über die Abweisung seitens der dünkelbelasteten Wiener Kunstwächter, dann den grausamen Ersten Weltkrieg, in dem der kleine Gefreite Adolf H. sich mit der Niederlage des Landes, für das er gekämpft hatte, identifizierte, bis schließlich zum Selbstmord unter unvorstellbar makaberen Umständen im Berliner Bunker. Prof Baumgartner im Nachwort:
„Hätte die Malakademie den aus der Provinz stammenden Schüler Adolf H. angenommen, er wäre nach seiner Ausbildung wahrscheinlich schnell wieder zurück aufs Land gezogen. Vielleicht in den Wienerwald oder ins Salzkammergut, denn ohne Stallgeruch und Verbindungen zur Wiener Kunstmafia wäre seine Position in der alten Kulturmetropole, in der es wie üblich von Intrigen und mafiaartigen Strukturen wimmelte, sowieso nicht lange zu halten gewesen. Zurück in der Provinz hätte er wahrscheinlich vornehmlich harmlose Landschaftsidyllen gemalt - nicht zuletzt schon deshalb, um die Wunden seiner arg unidyllischen Jugendjahre wenigstens ein bisschen zu verpflastern. Zweifellos hätte sein Talent zu einer gewissen Bekanntheit auf Landesebene ausgereicht. Adolf H. wäre in der Lage gewesen, von der Verwirklichung seines ursprünglichen Wunsches leben zu können - er wäre als Künstler tätig gewesen. Und hätte er auch als kleiner Soldat den Ersten Weltkrieg und seine Schrecken erleben müssen, ein normales Kriegstrauma hätte es nicht fertiggebracht‚ ihn zu dem Psychopathen zu konditionieren, als der er schließlich aus der Armee des geschlagenen Kaisers entlassen wurde: ohne individuelle, soziale und berufliche Identität‚ ein klassischer Fall von Schizophrenie.“
Als das veröffentlicht wurde, wusste ich noch längst nicht, warum diese deutschen Zeitungen meinen Cousin und sein Buch angriffen. Die Zeitungen in der Schweiz reagierten dagegen ganz vernünftig. Schließlich hatte Prof Baumgartner nur als Psychologe das gemacht, was Hannah Arendt, die Sozialforscherin‚ aus der Perspektive ihrer Wissenschaft mehrere Jahrzehnte vorher unternahm: dem Mythos Hitler seine Abstraktheit genommen.
Was Hitlers Unwahrscheinlichkeit auch gut ausdrückt, merkt man sofort bei alten Filmaufnahmen. Wenn man nicht seit der Geburt blind ist, weiß man schließlich, wie bunt alles aussieht. Die Welt ist eben nicht so schwarz-weiß wie all diese vielen Wochenschaufilme.
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