Zum Beispiel dadurch, dass man in den Schulen den Kindern nicht mehr beibringt‚ kompliziertere Zusammenhänge erkennen zu können. Sicher gab es in London auch diese Schule, in der einem weisgemacht wurde, zukünftig müssten alle Menschen zu Strichmännchen mutieren, um glücklich sein zu können, aber zu diesem verdammten Horror gab es reichlich Alternativen. Und genau das hat in Deutschland leider keine Tradition. Mit Selbstbewusstsein und Zivilcourage ist es genauso. Wo ich zum Beispiel wohnte, in der Nähe von Rheinstadt 1, krochen die Leute am liebsten auf allen Vieren herum - was bestimmt nicht nur daran lag, dass sie maximal einen Steinschleuderwurf vom Neandertal entfernt aufgewachsen waren.
Eher hatte es schon mit diesen fundamentalistischen Vorstellungen zu tun, von denen die Deutschen traditionell stark geprägt sind. (Genau genommen auch eine Art Ideologie.) Und zwar geht alles auf eine falsch interpretierte Aussage des Apostels Paulus zurück. In einem seiner Briefe glaubte man, die perfekte logistische Grundlage für jede Art von legitimierter Tyrannei zu finden. Er, Paulus, habe behauptet, jede verdammte Autorität sei von ganz, ganz oben so gewollt und alles. In Ewigkeit amen.
Für Old Wrzlbrmft etwa war genau das die Jobgarantie. Und für andere Betonköpfe eben auch. Derselbe Fundamentalismus beherrscht in den USA den gesamten Süden, also den sogenannten Bibelgürtel, der mit seinem Rigorismus auch keine andere menschliche Existenz zulässt als das Primatendasein.
Wie auch immer, aber die 68er Nazinachfahren rollten in ihrem Wahn‚ Krieg gegen ihr Vater-Land zu führen, die größte Kanone aus, als der Krieg um die Schulen anfing. Zuerst die Medien (eben schon gegen Ende der 60er Jahre) und als nächstes die Schulen‚ das gesamte Bildungssystem - damit hatten sie die wesentlichen Multiplikationsmechanismen in der Hand.
Mit der Zeit liefen ganze Generationen von Pä-da-go-gen vom Band der Negativ-Nationalismus-Maschine‚ die wiederum eine Schülergeneration nach der anderen auf das Dasein als zukünftiger Mustermensch hin fragmentierte und massakrierte. Wer diese Maschinerie vollständig durchläuft, kann logischerweise nicht seinen Hintern vom Kopf unterscheiden - wenigstens bei der Selbstdemontage arbeiten die Deutschen nach wie vor verdammt zuverlässig.
Neben den einfachen Primaten (der lebenslänglich von jeder Arbeit und Selbstverantwortung befreit vor sich hinvegetieren darf), warf das Bildungssystem der Nazinachfahren noch die spezialdemokratische Variante auf den Markt: den Fachidioten. In „Fahrenheit 451“ erklärt der Feuerwehrhauptmann Beatty: „Wozu etwas lernen, wenn es genügt, auf den Knopf zu drücken, Schalter zu betätigen, Schrauben anzuziehen? Wer eine Fernsehwand auseinandernehmen und wieder zusammensetzen kann‚ der ist glücklicher als derjenige, der das Universum ausmessen und auf eine Formel bringen will…“
Entweder lügen zum Beispiel die spezialdemokratischen Bildungsapparatschicks wie gedruckt, oder sie sind am Ende Opfer ihrer eigenen Propagandamaschinerie geworden (die u.a. auch nach Bauplänen aus der alten DDR installiert wurde), wenn sie behaupten, es wäre purer Zufall, dass sowohl die Nazis als auch die DDR-Machthaber solche Sprüche von sich gaben wie Beatty, als er sich eines Tages Montag vornimmt, den einfachen Feuerwehrmann, der angefangen hatte, sich unerlaubte Gedanken zu machen. Beatty will Montag zuerst nur die scheinbaren Vorteile des Systems klarmachen, als er erklärt, die Kinder in ihrer Gesellschaft würden schon fast aus der Wiege gerissen, um sie „in die Gänge“ zu bringen (wie Miss Bildung, die gelernte Pä-da-go-gin es immer ausdrückte). Das Recht der Kinder auf persönliche Entfaltung, so Beatty, ist im Keim zu ersticken. Und alles übrige Individualistische könnte sich dann sowieso gar nicht erst entwickeln.
Es gibt eine Rede von Hitler, in der er Wort für Wort dasselbe sagte. Sie ist zum Glück als Tonaufnahme erhalten. Deutsche Pä-da-go-gen (und mittlerweile ganz bestimmt in allen Bundesländern) sollten sie sich ziemlich oft anhören. In meinem stinknormalen, durchschnittlichen Wohnumfeld in Spezialdemokratien wurden jedenfalls Kinder, die keine Kindergartenkarriere hinter sich hatten, als psychisch und sozial gestört eingeschätzt und entsprechend staatlicherseits misshandelt - zum Beispiel in der Kinderpsychiatrie. Nur zu ihrem Vorteil, versteht sich. Man wollte nur ihr Bestes - und ich wette, man bekam es auch. Mit früh- oder hochbegabten Kindern stellten die Gangster sogar noch schlimmere Sachen an.
Als Bradburys Buch bekannt wurde, fanden sich hier und da Leute, überall in der Welt, kritische Köpfe, die späteren Fahrenheitianer, die erkannten, dass sich die Lebensbedingungen eines Tages wirklich so entwickeln könnten, wie sie im Roman beschrieben werden. Ich hatte keine Ahnung davon, bis ich in der letzten Schule, dieser Privatschule, in die ich ging, weil ich kein Talent zum Strichmännchen aufbrachte, meinen Freund Davy traf. Wir teilten uns vom ersten Tag an einen Tisch, und zuerst hielt ich ihn für besonders streng erzogen, weil er anders war als die anderen in der Klasse. Es war, wie gesagt, die orangefarbene Epoche, und wir fanden das meiste ganz großartig. Dazu gehörte es eben auch, dass wir reichlich lax herumliefen - von der Kleidung her, meine ich, und wenn einer von uns öfter als einmal im Jahr zum Haareschneiden gegangen wäre, hätte er sich ganz schön blamiert. Die meisten von uns konsumierten auch wie die Weltmeister, besonders auf dem Freizeitsektor, und wer ausnahmsweise zuhaus herumhing‚ hätte es ohne Flimmerkiste nicht lange ausgehalten - soviel ist sicher.
Davys Leute mussten, bis sie nach London kamen, alle zwei oder drei Jahre den Standort wechseln, weil sein Vater im diplomatischen Dienst zu tun hatte. Damals, als wir Vierzehn, Fünfzehn waren, hatte Davy von jedem Erdteil etwas mitbekommen, außer von Europa, und wenn er sich etwas wünschte, dann wollte er endlich irgendwo BLEIBEN.
Was uns zuerst zusammenbrachte, war die Sache mit dem Klavier. Wegen der ständigen Umzüge hatte er nie ein eigenes Instrument gehabt, obwohl er am liebsten jeden Tag gespielt hätte, weil er Musiker oder Komponist werden wollte. Bei uns zuhaus verstaubte der Kasten, seitdem meine einzige Freundin den Unterricht aufgab, nachdem sich Lady Jane abgesetzt hatte. Darum brachte ich Davy gleich in den ersten Tagen des neuen Schuljahres mit zu mir nach Haus, was sich zu einer dauernden Einrichtung entwickelte. Dabei stellte sich mit der Zeit heraus, warum seine Leute keinen Fernseher besaßen und warum sie ihren Sohn nicht grade so herumlaufen ließen, wie es dem Zeitgeist entsprach. Es hing eben damit zusammen, dass sie Fahrenheitianer waren und jeder neuen Zeitströmung zuerst einmal misstrauisch begegneten. Sie wollten einfach nicht von der Strömung abgetrieben werden. Ich schätze, es ist ein bisschen so wie in der Bibel beschrieben wird, obwohl die Fahrenheitianer überhaupt nichts mit irgendwelchen Religionen zu tun haben wollen, weil sie ihnen zu unsachlich erscheinen. Außerdem kann Hauptmann Beatty natürlich überall zuschlagen, egal welche Religion die Menschen haben.
Aber die Ähnlichkeiten zu Matthäus 7,14 sind wirklich erstaunlich. Dort heißt es: „Geht ein durch das enge Tor, denn breit und geräumig ist der Weg, der in die Vernichtung führt, und viele sind es, die auf ihm hineingehen (in die Vernichtung); doch eng ist das Tor und eingeengt der Weg, der zum Leben führt, und wenige sind es, die ihn finden.“
Am Ende des Romans geht schließlich der große Krieg los, den die Menschen aus Überdruss an der verdrehten Existenz, die sie sich aufzwingen ließen, angezettelt haben, und die große Masse, also all jene, die sich gedankenlos auf dem breiten Weg drängen, wird endgültig zum Opfer der totalitären Herrschaft.
Nur die wenigen Oppositionellen überleben, weil sie klug genug sind, dem Zeitgeist nicht nachgegeben zu haben. Sie nahmen in Hauptmann Beattys System die Mühseligkeiten gesellschaftlicher Außenseiter auf sich - das heißt, sie nahmen den Weg durch das enge Tor.
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