»Nein, und früher hat mein Vater solche Ge-schichten von mir fern gehalten, wohl aus gutem Grund.«
»Also pass auf! Es soll sich um den Geist von Suzuki Kikuko , handeln, die nur drei Jahre alt geworden ist. Ihre Lieblingspuppe hieß Okiku Chan . Statt sie mit Suzuki zusammen zu beerdigen, hat man die Puppe auf den Familienaltar gestellt. Suzukis Bruder Eikichi hat dort oft mit ihr gespielt. Als er zum Militär eingezogen wurde, übergab er die Puppe vorher einem Mönch des Mannenji Tempels, der sie verwahren sollte. Als er später zurückkehrte, stellte er fest, dass ihre Haare gewachsen waren. Seitdem muss man angeblich alle zehn Jahre ihre Haare schneiden und einigen Tempelbesuchern soll sie zugezwinkert haben.«
»Dafür, dass du dich für solche Dinge nicht sonderlich interessierst, weißt du aber gut Bescheid.«
»Was heißt nicht sonderlich interessieren? Du warst halt immer diejenige von uns beiden, die in der mystischen Welt mehr verhaftet war, aber deshalb bin ich davon nicht gänzlich unbeleckt. Die meisten japanischen Kinder wachsen mit diesen Geisterge-schichten auf. Weißt du noch, wie du dich geweigert hast, in der Schule auf die Toilette zu gehen?«
»Ich wusste, dass du damit anfangen würdest. Das war nur, weil die Mädchentoilette in unserer Schule auch im dritten Stock lag. Und du und deine Freundinnen habt ja laut genug von der yūrei Toire no Hanako geplappert. Die sollte eben im dritten Stock in der dritten Kabine der Mädchentoilette als Geist umgehen, falls du dich erinnern kannst. Man durfte nicht einmal an die verschlossene dritte Kabinentür klopfen, um Hanakos Zorn nicht heraufzubeschwören und an Ort und Stelle von ihr erwürgt zu werden.«
»Ich hielt das immer für ausgemachten Blödsinn und habe mich halbtot darüber gelacht.«
»Ich weiß, kaum vorstellbar, dass wir irgendwann so gute Freundinnen geworden sind…«
»Gegensätze ziehen sich an, eine alte Weisheit. Ich musste eben erst etwas reifer werden, um dich zu respektieren wie du bist. Ich fand es sogar ziemlich aufregend, dass du einen etwas anderen Zugang zu dieser Welt hattest.«
»Aha, es hat dir gefallen, eine Art Wundertier als Freundin zu haben.«
»Vielleicht, aber ich habe es bis heute nicht bereut.«
»Danke. Das war damals eine schlimme Zeit für mich. Ich habe nächtelang nicht geschlafen und mir mehr als einmal fast in die Hose gemacht, weil ich in der Schule nicht auf die Toilette gehen wollte. Und die Tatsache, dass mir ein Junge aus meiner Klasse die noch grausamere Variante der Geschichte erzählte, hat alles noch schlimmer gemacht. Du weißt doch, wo Hanako von einem der Mädchen einen roten Umhang haben will. Wer ihr keinen gibt, dem reißt sie mit einem Ruck die Haut herunter, als Ersatz sozusagen.«
»Liebchen, die Legende macht seit über sechzig Jahren Schulmädchen Angst. Du warst also gewiss kein Einzelfall. Man ist sich nur über die Entstehungsgeschichte uneinig. Einmal heißt es, dass Hanako im 2. Weltkrieg Schutz vor den Bomben in der Schultoilette suchte und verschüttet wurde. Ein andermal sie sei ein sexuell missbrauchtes und danach ermordetes Schulmädchen gewesen. Und yūrei sind eben weibliche Rachegeister, das weiß inzwischen auch die westliche Welt, spätestens seit dem Film „Ringu“. Selbst Hollywood konnte es nicht lassen, eine Version namens „Ring“ zu erstellen, einschließlich Teil zwei.«
Die Erzählungen von yūrei-Rachegeistern waren mit wachsender Popularität buddhistischer Lehren entstanden. Ausgehend von der Idee, dass starke Emotionen wie Liebe und Hass die Seelen Verstorbener an das Diesseits binden. Frauen waren in der konfuzianischen Gesellschaftsordnung den Launen der Männer nahezu rechtlos ausgeliefert, deshalb verwunderte es nicht, dass die yūrei in den Geschichten fast ausschließlich weiblich waren. Sie trugen ihr langes schwarzes Haar strähnig und ungepflegt über dem Gesicht und waren in weiße Hemden, ähnlich einem Toten-Gewand gekleidet. Ihre Hände wirkten wie ausgerenkt baumelnd an ihren Handgelenken. Filme wie „Ringu“ oder „Ring“ hatten diese Darstellung übernommen.
»Und was die Puppe im Theater angeht«, schloss Mayumi ihre Ausführungen ab, »beachte sie einfach nicht oder nimm eine Schere und schneide ihr die Haare.«
»Der Meister wäre begeistert«, sagte Yumiko kopfschüttelnd, »das wäre wohl das Ende für mein Engagement im Gion Corner Theater.«
Endlich war die Zeit gekommen, Emi war nun eine „shikomi“. Sie durfte einen einfachen grauen Kimono und ihre Haare zu zwei Zöpfen geflochten oder zurück-gebunden tragen. Der unangenehme Teil war, dass sie darauf zu warten hatte, bis die Geishas von ihren Banketten zurückkehrten, um ihnen zur Verfügung zu stehen, falls sie noch etwas brauchten. Das konnte erst in den frühen Morgenstunden sein. Oftmals bekam Emi nur wenige Stunden Schlaf, denn sie durfte nun auch die Gesangs- und Tanzübungsstätte kaburen-jō besuchen und musste das Pensum bewältigen. Sie lernte, dass die Bewegungen sehr langsam sein und sich zum Boden hin richten mussten. Dabei gab es feste Muster, „kata“ genannt, die zusammen ein komplettes Stück bildeten. Schon nach den ersten Stunden ahnte Emi, dass harte Arbeit auf sie zukommen und die Ausbildung Jahre dauern würde, denn man musste sich mit den Schritten völlig identifizieren, sie mussten einem förmlich in Fleisch und Blut übergehen. Obwohl das von der Lehrerin übermittelte Wissen „mane“ - Imitation genannt wurde, durfte der traditionelle japanische Tanz keineswegs nur einfaches Nachahmen sein. Die Tanzprüfung würde dann in der „nyokoba“ stattfinden, wie schon die okāsan berichtet hatte. Aber dann würde Emi schon eine Lernmaiko, auch „minarai“ genannt, sein und dürfte sich danach Berufstänzerin nennen.
»Es gibt zwei Worte im Japanischen für Tanz - mai und odori , führte die Lehrerin aus, »die odori -Tänze werden zu frohen und traurigen Anlässe aufgeführt und dürfen von jedem auf japanischen Festen getanzt werden. Von den mai -Tänzen gibt es wiederum drei Arten, die nur von darin Ausgebildeten getanzt werden dürfen. „Mikomai“ sind die Weihetänze der Dienerinnen eines shintou-Schreins, die als Gabe an die heiligen Götter aufgeführt werden, „bugaku“ die Tänze des Kaiserhofes und „nō mai“ die Tänze des Nō-Dramas. Der Tanzstil der maikos und Geishas ist „mai“ und geht auf „nō mai“ zurück.«
Emi konnte nicht genug erfahren und war fest entschlossen, allen Anforderungen zu genügen und alle Prüfungen erfolgreich abzuschließen, um eine anmutige und geachtete geiko werden zu können.
Im Gion Corner Theater war das klassische japanische Puppentheater bunraku , bei dem Yumiko mitwirkte, nur ein Teil des eineinhalbstündigen Programms, das die sieben beliebtesten darstellenden Künste von Kyōto thematisierte. Daneben gab es noch die klassische Komödie kyōgen - wörtlich: „verrückte Worte“ oder „wilde Sprache“, eine komische Form des traditionellen japanischen Theaters mit dem Hauptziel, das Publikum zum Lachen oder zum Schmunzeln zu bringen. Dabei waren von der Tradition her alle Schauspieler Männer, auch in weiblichen Rollen, wie beim nō und kabuki . Der kyōmai -Teil, auch Kyōto Style Dance genannt, gab jungen maikos und Geishas Gelegenheit, ihre Tanzkünste zu zeigen. Weiterhin gehörten noch die Musik des kaiserlichen Hofes - gagaku , koto , Ikebana und die berühmte Teezeremonie zum Programm.
Yumiko stand noch unentschlossen in der Seitengasse der Bühne und lauschte den koto -Klängen, als ihr Kollege Haruko sie dort entdeckte.
»Nanu, hast du keine Lust auf Feierabend?«, fragte er lächelnd.
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