„Ein Reiter“, flüsterten die Zauberwesen. „Der erste seit Jahrzehnten!“
„Oh, Astos, bist du sicher?“, rief Griselbart und wirkte zum ersten Mal an diesem Abend bestürzt.
Tom folgte einem inneren Instinkt, streckte die Hand aus und berührte den Hirsch an der Stirn. Lange hatte er es tun wollen. Es gab einen hellen Blitz, ein rasender Schmerz zuckte durch seine rechte Hand und erschrocken riss er sie zurück. Als er wieder sehen konnte, sah er, dass auf seinem Handrücken ein kleines geweihförmiges Mal entstanden war.
Tom fehlten die Worte für das, was ihm in diesem Moment widerfuhr. Er fühlte sich nicht länger wie ein einziges, selbständiges Wesen, sondern als hätte man ihn in der Mitte zerteilt. Dieses zweite Geschöpf, das vor ihm in einem hellen gelben Licht erstrahlte, war genauso wichtig wie er selbst; ihre Leben miteinander verbunden. Noch während er das Wunder dieses Augenblicks bestaunte, leuchtete das Zimmer erneut auf. Das rote Gluthien, das Tom so gefallen hatte, löste sich in Peers Handfläche auf und suchte sich einen Platz in seinem Körper. Peer lachte ungläubig und musterte seine Hände, als hätte er sie noch nie gesehen. Für ihn entschied sich kein Hirsch aus der Menge.
Griselbart brachte die Umstehenden zum Schweigen und sagte dann: „Ihr müsst wissen, es geschieht selten, dass ein herrenloses Gluthien sich eine neue Linie aussucht. Und jetzt ist es gleich zweimal passiert. Sie wissen, dass die Zaubererwelt in Gefahr ist“, sagte er spitz in Richtung des Werwolfs. Der knurrte nur: „Noch haben sie uns nicht gerettet.“
Thalíng, der Dunkelelf, ergriff das Wort. „Einen Reiter hat es seit langem nicht mehr gegeben. Nur solche mit einem reinen Herzen werden Reiter. Astos muss es bei dir gespürt haben.“
Tom war um eine Antwort verlegen. Er streichelte sanft Astos‘ Hals, der sich unter seinen Fingern weich wie Schnee anfühlte. Normalerweise verspürte er Angst, wenn er einem großen Tier zu nahe kam, nicht so in diesem Fall.
„Die Verbindung wird dir von Vorteil sein, denn Wesen, die einem Menschen nicht trauen, werden einem Reiter trauen.“
Charlie löste sich mit freudestrahlendem Gesicht von der Seite ihres Vaters. Sie packte jeweils eine Hand der beiden Jungen und drückte sie. „Jetzt können wir gemeinsam zaubern lernen! Das blaue Gluthien steht für List und das rote für Loyalität. Sie sind beide sehr stark.“
Sie zeigte ihnen das schwarze Licht über ihrem Herzen, das vom Stoff ihrer Kleidung recht gut verborgen wurde. Tom wollte sie fragen, warum ihres schwarz war und wofür es stand, aber Griselbart schnitt ihm das Wort ab.
„Für euch beginnt jetzt eine Lernphase, die euer ganzes Leben lang anhalten wird. Seid aufmerksam, seid vorsichtig und nutzt eure Magie nie, um anderen zu schaden. Das ist die erste Regel.“
Tom und Peer versprachen es. Tom fühlte eine neue Lebendigkeit in seinem Inneren wie ein zweiter Blutfluss, der nur darauf wartete entfesselt zu werden.
„Bevor wir beginnen, euch Zauberkunst beizubringen, braucht ihr zwei einen Zauberstab wie diesen.“ Griselbart klopfte mit seinem hölzernen Stock zweimal auf den Boden und die Luft begann plötzlich zu wirbeln, wie in einen Strudel gesogen. „Es kann auch ein anderer Gegenstand sein, Charlie zum Beispiel benutzt einen Ring. Auch die Meerjungfrauen im ersten Kessel tun das.“
Das Mädchen zeigte ihnen einen Ring mit schwarzem Stein am Finger ihrer linken Hand. Tom war er früher schon aufgefallen, er hatte ihn für ein Erbstück gehalten.
„Darin besteht eure erste Aufgabe. Findet etwas, wodurch ihr euch zu eurem Gluthien hingezogen fühlt und das euch das Zaubern erleichtert. Es kann auch etwas aus eurer Kindheit sein. Wenn ihr einen Gegenstand gewählt habt, kommt wieder zu mir. Und noch etwas: ihr müsst euch beeilen, denn die Zauberkraft wird einen Weg aus euch heraussuchen und das könnte schwerwiegende Folgen haben.“
Tom und Peer nickten.
Kunibert sagte: „Das heißt: Ja, Meister Griselbart.“
„Ja, Meister Griselbart“, erklang es im Chor.
Griselbart entließ sie unter dem Vorwand, dass er mit den anderen Wesen noch ein paar Angelegenheiten besprechen wollte. Tom war sich sicher, dass sie sich auch über ihn und Peer unterhalten würden. Tatsächlich schnappte er beim Hinausgehen ein paar geraunte Wortfetzen auf. „Das wird kein gutes Ende nehmen, Griselbart. Vor allem der Winter-Junge hat zu viel Energie. Und sein Blick … sehr unbeständig.“ Das war natürlich Kuru.
„Ich habe so etwas noch nie gesehen“, hörte man die schöne Stimme der Elfenfrau. „Es war wirklich beeindruckend.“
Kunibert, der sein Zögern bemerkte, schob die beiden Jungen aus der Tür; Astos folgte Tom auf dem Fuß. „Macht besser, was Meister Griselbart euch gesagt hat und sucht nach einem Holz für euren Zauberstab. In diesen Zeiten ist es nicht klug, säumig zu sein.“
Draußen war die Nacht hereingebrochen. In den Nachbarhäusern hatte man gelbe Lichter entzündet und vom Wald drang der Schrei eines Waldkauzes herüber.
„Sind Sie schon immer ein Zauberer?“, platzte Tom heraus. „Und sind noch mehr Leute Zauberer, die ich kenne?“
„Die Rottints sind eine der ältesten Zaubererfamilien die es gibt“, antwortete Kunibert hochmütig. Sein Gesicht wirkte in der Dunkelheit wachsartig und ausgemergelt. „Und da ich nicht weiß, wen du kennst, kann ich dir deine zweite Frage nicht beantworten.“
Tom kniff bei dieser Antwort die Augen zusammen.
„Ich wette, Justus aus der 9b ist ein Zauberer!“, rief Peer, klang aber alles andere als erfreut. „Im Naturwissenschaftswettbewerb vor zwei Jahren war mein Projekt besser als seins. Zufällig ist ein schwerer Atlas vom Regal gefallen und hat es kaputt gemacht. Ich wusste, dass er etwas damit zu tun hatte, konnte ihm aber nie etwas nachweisen …“
„Ich wäre an deiner Stelle vorsichtig mit Anschuldigungen“, sagte Kunibert scharf. „Du könntest mehr davontragen, als ein kaputtes Wissenschaftsprojekt.“ Der große Mann blickte auf die Uhr. „Es ist jetzt wirklich Zeit. Charlie, verabschiede dich.“
Charlie hob eine Hand zum Gruß. „Bis morgen dann. Wir treffen uns bei Meister Griselbart.“ Sie lächelte leicht, dann war sie mit ihrem Vater in der Dunkelheit verschwunden. Zurück blieben Tom, Peer und Astos, der weiße Hirsch.
„Kannst du das glauben, Tom?“, fragte Peer. Er grinste, wirkte aber auch etwas durch den Wind.
Tom schüttelte den Kopf. Nein, konnte er nicht.
„Ich glaub, ich weiß schon, was ich für meinen Zauberstab nehme“, sagte Peer. An der Weggabelung wandte er sich nach links. „Dazu muss ich nach Hause, wir sehen uns später, ja? Passt gut auf, ihr zwei!“
Es sah aus, als wollte er den Hirsch streicheln, aber dann überlegte er es sich anders und ging mit einem staunenden Lächeln davon. Tom blickte ihm nach, bis er ins Haus gegangen war. Er schüttelte leicht den Kopf; das alles kam ihm vor wie ein verrückter Traum.
Hinter ihm leuchteten die Fenster des Bernsteinwegs sechs einladend in der Dunkelheit. Etwas in ihm wollte nichts lieber als hinein in sein Zimmer zu gehen und die Tür zuzumachen. Aber da war auch eine neue Abenteuerlust in ihm erwacht und diese erlaubte es nicht, dass er den Hirsch jetzt verließ. Er musste sich zunächst um seinen Zauberstab kümmern, wie Griselbart vorgeschlagen hatte.
Ein kühler Windhauch fuhr ihm unter die Kleider und ließ ihn frösteln. Er konnte von Glück reden, einen Vater wie Reginald zu haben. Jeder andere wäre wohl auf die Barrikaden gegangen, wenn der dreizehnjährige Sohn um Mitternacht nicht im Bett war.
Er drehte sich zu dem Hirsch um. Sein Gesicht erschien ihm noch immer wie eine Traumgestalt und er spürte eine gewisse Scheu und Ehrfurcht vor dem Tier. Es war stark genug, einen erwachsenen Mann mit seinem Geweih zu töten und obendrein genauso klug wie ein Mensch.
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