Kurze Zeit später erreichten sie die Friesenstube, und Dennis öffnete die Tür. Verqualmte Luft und Stimmengewirr schlug ihnen entgegen, verstummte jedoch, nachdem sie eingetreten waren.
Sie nahmen am Tresen Platz, und Dennis bestellte bei dem dicken, rothaarigen Wirt zwei Bier. Um sie herum wurden die Gespräche wieder aufgenommen, doch immer wieder flogen argwöhnische Blicke zu den Neuankömmlingen herüber.
Dennis sah sich unauffällig in dem dunkel getäfelten Schankraum um. Zwei Barhocker entfernt von ihm saß ein kräftiger Mann mit wettergegerbtem Gesicht und schwarzen, im Nacken zusammengebundenen Haaren, der sich mit einem pockennarbigen Mann unterhielt. Neben dem Pockennarbigen saß ein Typ mit eisgrauem Bürstenhaarschnitt und einem Raubvogelgesicht, den der Wirt Karsten nannte. Und dann war da noch der Glatzköpfige!
Oha, schüttelte sich Dennis innerlich. Dem möchte ich aber nicht unter die Finger geraten! Was für Muskeln! Allerdings passt sein lächerlich kleiner Kopf nicht dazu. Aber vielleicht benötigt sein Gehirn ja nicht allzu viel Platz, dachte er boshaft, als ihn die Stimme des Wirtes aus seinen Betrachtungen riss.
„Ich möchte zu gerne mal wissen, was Sie auf unserer Hallig zu suchen haben, Mister“, sagte dieser gerade. „Wir sind an Besuchern nämlich nicht besonders interessiert.“
„Unsere Zeitung hat uns hierher geschickt. Wir suchen nach Fakten und Informationen über ein Umweltvergehen“, sagte Dennis.
„Umweltvergehen! Mein Gott, wie gebildet! Aber so was gibt´s bei uns nich´, da könn´ Sie man besser gleich wieder abhau´n, bevor Ihn´ noch was passiert“, sagte der Pockennarbige frech.
„Karl, du hältst dich gefälligst zurück“, befahl Karsten, und an Dennis gewandt: „Aber es stimmt. Bei uns gibt es keine Umweltkriminalität. Ich fürchte, Sie haben den weiten Weg umsonst gemacht. Sie hätten lieber in Endepha bleiben sollen. Städter halten es hier nämlich nicht lange aus. Sie sollten schnellstens wieder abreisen.“
Woher weiß der Typ, dass wir aus Endepha kommen? dachte Dennis. Natürlich von der guten Frau Johannsen, beantwortete er seine Frage selbst. Anscheinend hatte sie nichts Eiligeres zu tun, als diese Information weiterzugeben.
„Karsten hat recht“, mischte sich nun auch noch der Glatzköpfige ein. „Die Presse macht viel zu viel Aufhebens um das bisschen Öl.“
„Öl?“, fragte Nadja spitz. „Uns sagte man, es seien hochgiftige Chemieabfälle.“
„So´n Quatsch“, knurrte der Wirt und strich sich mit der Hand über den roten Schnauzbart, der nur unzulänglich die tiefe Hasenscharte verbarg.
„Und was ist mit den entstellten Meereslebewesen, die angeschwemmt wurden? Ist das etwa auch Quatsch?“
„Diese sogenannten entstellten Tiere gerieten höchstwahrscheinlich in Schiffsschrauben oder wurden von anderen Fischen angefressen“, mischte sich der Dunkelhaarige ein. Er drehte sich zu Nadja um und starrte sie an.
Seine Augen sind wie aus Glas, dachte Nadja und erschauerte unter deren eisigen Blick. Doch so leicht ließ sie sich nicht einschüchtern. „Und wie erklären Sie die von Wucherungen übersäten Körper?“, fragte sie.
„Gar nicht. Das ist von den Medien verzapfter Quatsch“, sagte der Dunkelhaarige und drehte ihr den Rücken zu.
Tommy war trotz des Verbotes zum Strand hinuntergelaufen. Geschwind entledigte er sich seiner Turnschuhe und Socken und eilte, sein nagelneues Boot mit den rotweiß gepunkteten Segeln und den silbern glänzenden Beschlägen fest an sich gepresst, aufs Wasser zu.
Doch, Halt! Was war das?
Tommy stoppte so abrupt, dass er das Gleichgewicht verlor und der Länge nach hinfiel. Aber der Sand war weich, und so tat er sich nicht weh. Er rappelte sich wieder hoch und sah sich auf den Knien hockend nach dem Gegenstand um, der seinen Sturz verursacht hatte.
Wo war er? Seine haselnussbraunen Augen wanderten suchend über den Sand. Aha! Das Funkeln dort, nur wenige Schritte entfernt, das musste er sein. Tommy stand auf und ging hin. Er bückte sich und hob es auf.
„ Uiiii , das ist aber hübsch!“, rief er begeistert und ließ den ellipsenförmigen Glastropfen auf seiner Handfläche hin und her rollen. Mit leuchtenden Augen beobachtete er das Gleißen und Funkeln des sich in den unzähligen fein geschliffenen Facetten brechenden Lichts.
Den Glastropfen in der einen und sein Segelboot in der anderen Hand schlenderte Tommy zum Wasser und setzte sich auf den schäbigen Rest eines aus dem Wasser ragenden Kahns. Er legte sein Spielzeugschiff in den Sand und hielt den Tropfen in die Sonnenstrahlen. Plötzlich fühlte er sich beobachtet! Er sprang auf und wirbelte herum.
Aber da war nichts! Nur Stille, endlose Dünen so weit das Auge reichte, dazu der azurblaue Himmel und das im Sonnenlicht schimmernde Meer.
„Angsthase“, murmelte Tommy verlegen. Und doch hatte er Blicke gespürt, oder nicht? „Aber da ist doch weit und breit nichts“, führte er sein Selbstgespräch fort. Er nahm sich zusammen. Schließlich war er mit seinen sieben Jahren kein kleines Kind mehr, das sich vor der Dunkelheit und dem leisesten Geräusch ängstigte.
„Immerhin bin ich doch ein großer Junge, fast schon ein Mann“, rief Tommy dem sanften Wellenschlag des unendlich scheinenden Meeres zu.
„ Ja, das bist du“, flüsterten die sachte auf den Strand zurollenden Wellen dem Jungen zu. „Aber Furcht ist keine Schande. Besonders dann nicht, mein Kind, wenn sie zur Vorsicht rät. Sieh genau her!“
Und Tommy starrte wie vom Donner gerührt aufs Meer. Was war das?! Eben noch strahlend blau verfärbte es sich sekundenschnell in ein schmutziges Dunkelgrau, verformte sich zu einem riesigen Schatten, der sich unentwegt aufbäumend und wieder in sich zusammenfallend dem Strand näherte.
Dem Strand?!
Nein! Nicht dem Strand. Ihm! näherte sich der gewaltige Schatten! Doch was, um Himmelswillen, war das? Ein Hai? Nein, der Schatten dort war viel, viel größer. Vielleicht ein Wal? Doch gab es so große?
Tommy sprang erschrocken hurtig wie ein Kastenmännchen auf und ließ dabei den Glastropfen fallen. Doch bevor er ihn wieder aufheben konnte, geschah
UNGLAUBLICHES!
„ Neiiiin!“, schrie Tommy und wich entsetzt zurück, als die drei Riesenkrabben sich von dem dunklen Schatten im Meer lösten und behände auf ihn zugeeilt kamen.
Und sie waren schnell! Unglaublich schnell!
Zwei der Krabben huschten an Tommy vorbei und blieben etwa einen Meter hinter ihm stehen. Die dritte Krabbe (es war Risko in Begleitung seines Bruders Lopto und seiner Schwester Tisenka, doch das konnte der Junge nicht ahnen. Außerdem hätte ihm dieses Wissen sicherlich nicht seine Angst genommen) eilte auf den funkelnden Glastropfen zu. Risko schnappte sich das Glitzerding und flupp war es verschwunden.
Wie erstarrt beobachtete Tommy das Geschehen. Ich glaube das einfach nicht, wimmerte es hinter seiner Stirn. Solche Wesen gibt es doch nur in meinen Comics, aber doch nicht in Wirklichkeit! Und was ist, wenn sie dich angreifen? Wenn sie dich fressen? fragte die aufdringliche Stimme der Angst in ihm.
„Quatsch! Das tun sie nicht“, flüsterte Tommy mit einer Sicherheit, von der er nicht wusste, woher er sie nahm. Auf die Idee wegzulaufen kam er überhaupt nicht. Er starrte das Wesen an, und Risko starrte mit seinen großen Augen, die sich auf langen Stielen hin und her bewegten, zurück.
Aber er griff den Jungen nicht an. Später fragte sich Tommy, warum die Krabbe es nicht getan hatte. Paralysiert wie er war, hätte er nicht die geringste Chance gegen das Tier gehabt.
Langsam, ohne ihn aus den Augen zu lassen, drehte sich Risko um und krabbelte zusammen mit seinem Bruder und seiner Schwester zurück zum Wasser. Risko und Lopto waren bereits im Meer verschwunden, da drehte sich Tisenka plötzlich um und eilte zu Tommy zurück.
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