„Taros, lass das oder du bleibst nächstes Mal zu Hause“, schalt Robby ihren jüngsten Bruder.
„Spielverderberin“, murrte Taros beleidigt. Aber er ließ endlich den langen, pinselartigen Pflanzenstängel los, mit dem er seine Schwester gekitzelt hatte, und schwamm hinüber zu seinen Brüdern.
Remolos und Andros beobachteten von einer schmalen Sandbank aus die Schiffsanlegestelle der Hallig Okkerland.
„Da kommt das Postschiff“, sagte Remolos, Robbys ältester Bruder. „Mal sehen was ...“
„Ach, das ist doch langweilig“, fuhr ihm Taros dazwischen. „Lasst uns lieber Fangen spielen, das ist viel interessanter.“
„Das geht nicht, Kleiner“, sagte Remolos nachsichtig. „Großvater möchte, dass wir die Hallig beobachten, und genau das werden wir tun. Du musst dich heute mal alleine beschäftigen.“
„Dann eben nicht“, maulte Taros beleidigt und paddelte davon.
„Kindskopf“, murmelte Remolos liebevoll und wandte sich wieder seiner Aufgabe zu.
„Kennst du die Leute da?“, fragte Andros seinen Bruder.
Remolos musterte aufmerksam den hoch gewachsenen Mann mit den braunen Haaren und die schwarzhaarige Frau, bei der sich ein semmelblonder Junge eingehakt hatte. Die drei verließen gerade das Postschiff.
Remolos schüttelte den Kopf. „Die sind nicht von hier. Das müssen Besucher sein.“
„Besucher? Aber die Halligbewohner verabscheuen Fremde. Bist du sicher, dass sie nicht auf Okkerland wohnen“, fragte Andros skeptisch.
„Natürlich bin ich sicher“, sagte Remolos bestimmt. „Nur Besucher kommen mit Gepäck. Außerdem habe ich die Neuankömmlinge hier noch nie gesehen.“
Andros starrte seinen Bruder mit offenem Mund an. „Woher weißt du das denn?“, fragte er beeindruckt.
Remolos lachte. „So etwas weiß man doch.“
„A...aber wie kannst du sie voneinander unterscheiden?“, stotterte Andros verwirrt.
„Das ist nicht schwer“, sagte Remolos. „Im Gegenteil, die Menschen lassen sich leichter voneinander unterscheiden, als wir Robben.“
„Das glaube ich nicht. Du machst dich mal wieder lustig über mich“, klagte Andros.
„Remolos hat recht“, mischte sich Robby ein. „Die Menschen lassen sich tatsächlich leicht voneinander unterscheiden. So, und nun kommt. Lasst uns auf Hörweite heranschwimmen, vielleicht erfahren wir etwas Wichtiges.“
Dennis Parker atmete tief durch, als er das Postschiff verließ. Diese Luft. Diese Ruhe. Kaum zu glauben, dass hier skrupellose Umweltverbrecher ihr Unwesen treiben sollten. Und doch waren er und Nadja aus genau diesem Grund von ihrer Zeitung hierher geschickt worden. Ralf Martens, ihr Chefredakteur, hatte Hinweise erhalten, die auf einen üblen Umweltskandal hindeuteten.
„Wer soll denn auf dieser friedlichen Hallig Umweltsünden begehen? Ob man uns da nicht einen Bären aufgebunden hat? Was meinst du?“, fragte seine Lebensgefährtin Nadja Lowinsky, eine promovierte Tierärztin und derzeitige Fotografin, als hätte sie seine Gedanken gelesen.
„ Versucht herauszufinden, was dort los ist, und bringt mir eine gute Story und gute Fotos“, hörte er seinen Chefredakteur sagen.
„Ich kann es mir auch nicht vorstellen“, erwiderte Dennis mit einem Schulterzucken. „Allerdings hat sich Martens bislang noch nie geirrt. Er muss hervorragende Informanten haben.“
„Dieser Schleimer“, sagte Nadja voller Abneigung. „Ich kann diesen verdammten Blutsauger nicht ausstehen.“
„Na, na“, beschwichtigte Dennis sie. „So schlimm ist er ja nun auch wieder nicht.“
„Aber schlimm genug“, murmelte Nadja.
Dennis genoss die saubere Luft. Ah, tat das gut! Und dann diese Stille, welche nur vom schrillen Kreischen der Möwen unterbrochen wurde, die auf einen Leckerbissen hofften. Herrlich war es hier.
Das Meer zeigte sich von seiner besten Seite, bot sich glatt und still dar und ließ für einen Moment vergessen, in welch schreckliche Bedrängnis es die Menschen zu bringen vermochte. Besonders in den Wintermonaten, wenn häufig nur noch die Häuser auf ihren Warften aus dem Wasser herausragten, und der Rest der Hallig Land unter war.
„Kommt, unsere Vermieterin wartet sicher schon auf uns“, drängte Nadja. „Wir sollten die Frau nicht verärgern, sonst sitzen wir plötzlich auf der Straße. Und da die Halligbewohner nicht gerade fremdenfreundlich sind, werden wir mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit keine andere Unterkunft finden.“
Dennis nickte und nahm seinen Koffer in die eine und Nadjas in die andere Hand, während diese ihre Tasche mit der teuren Fotoausrüstung über die Schulter hängte und nach der Reisetasche griff.
Tommy rückte den leuchtend gelben Rucksack auf seinen schmalen Schultern zurecht und sah sich unternehmungslustig um. Sein Blick fiel auf Robby, die sich herangepirscht hatte und gerade in diesem Moment ihren Kopf neugierig aus dem Wasser streckte.
„Eine Robbe! Sieh nur Mutti, da drüben ist eine weiße Robbe!“, schrie Tommy aufgeregt.
Robby tauchte blitzschnell unter.
„Eine Robbe? Wo?“, fragte Dennis. „Ich sehe keine.“
„Scheiße! Jetzt ist sie weg“, fluchte der Junge.
„Tommy, keine Schimpfwörter bitte“, ermahnte ihn Nadja.
„Entschuldige, Mama, das ist mir so rausgerutscht“, sagte Tommy verlegen. „Soll nicht wieder vorkommen. Aber ich hab noch nie eine weiße Robbe gesehen.“
„Weiße Robben? Du musst dich geirrt haben, Schatz. Hier gibt es keine weiße Robben, nur ganz normale, bräunlich-graue Seehunde.“
„Aber ich habe sie doch gesehen. Sie war weiß, Mama, ganz bestimmt“, behauptete Tommy.
Nadja fuhr ihrem Sohn liebevoll durch seinen dichten Haarschopf. „Wahrscheinlich hat dich das Sonnenlicht genarrt“, sagte sie begütigend. „Das kann jedem Mal passieren.“
Und ich habe sie doch gesehen! Sie war weiß, und da bin ich mir ganz sicher, dachte Tommy, sagte jedoch nichts mehr.
„Geh´n wir?“, fragte Dennis, der sich aus Meinungsverschiedenheiten zwischen Nadja und ihrem Sohn, den er wie sein leibliches Kind liebte, heraushielt.
Nadja nickte, und sie machten sich auf den Weg.
Zwanzig Minuten später erreichten sie das zweistöckige Reetdachhaus der Witwe Johannsen und klingelten. Eine korpulente Dame mittleren Alters öffnete und hieß sie willkommen.
„Ihre Zimmer liegen in der oberen Etage. Kommen Sie, ich zeige Sie Ihnen“, sagte sie und stieg vor ihnen die massive Holztreppe hinauf. „Ich habe gehört, Sie wollen hier ein Buch schreiben?“, fragte sie.
„Ein Buch? Nein, wir recherchieren für einen Artikel über Umweltverbrechen“, erwiderte Dennis.
„Da...das hat man mir aber nicht gesagt“, stotterte die Frau sichtlich erschrocken und nestelte nervös an ihrem glitzernden Anhänger herum.
„Wieso? Ist das ein Problem“, fragte Dennis.
„Nein, nein“, stieß die Frau hervor und verließ so hastig den Raum, als seien ihre Besucher plötzlich von einer ansteckenden Krankheit befallen.
„Was hat sie denn plötzlich?“, fragte Dennis.
Nadja schüttelte den Kopf. „Keine Ahnung.“
„Darf ich spielen gehen?“, fragte Tommy.
„Ja, aber bleib dem Wasser fern“, sagte seine Mutter.
„Mach ich“, rief Tommy und sprang davon.
„Und was machen wir beiden Hübschen?“, fragte Nadja.
„Wir machen die Dorfschänke unsicher“, grinste Dennis und nahm ihre Hand.
Auf dem Weg zur Friesenstube, der einzigen Gaststätte auf der Hallig, drehte sich ihr Gespräch immer wieder um die seltsame Reaktion ihrer Vermieterin. Weshalb war die Frau so erschrocken? Hatte sie etwas zu verbergen, vielleicht sogar etwas, das ihren Auftrag betraf? Ihr Jagdfieber nach Informationen war erwacht und beflügelte ihren Schritt.
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