Als er sein Handy wegsteckte und aufblickte, sah er in Jacks grinsendes Gesicht. „Was? Sie ist meine beste Freundin, das weißt du. Keine Ahnung, was sie dir erzählt hat, aber gestern ist nichts passiert. Wir haben geredet, wir haben Dads sündhaft teuren Wein aufgemacht und dann ist sie wieder gegangen, bevor er uns mit der Flasche erwischen konnte.“
Jacks Grinsen verblasste etwas. „Wie jetzt? Kein Geknutsche oder Gefummel? Du enttäuschst mich, Mann. Sie ist bald auf und davon und das kümmert dich nicht? Wenn du so weitermachst, schnappt sie sich noch einen eingebildeten Millionenerben aus den Hamptons.“
Julian zuckte mit den Schultern. „Ich glaube, du siehst das zu wissenschaftlich. Leslie ist nicht dumm, sondern klug, und sie weiß genau, was sie will.“
Jack hob eine Hand und deutete auf Julian. „Stimmt genau und das bist du. Wie lange willst du noch so tun, als würdest du es nicht sehen?“
Julian schüttelte mit dem Kopf. „Ich bin mir nicht sicher, ob ich dafür bereit bin. Der Ärger mit meinem Vater und dieses Projekt, für das wir von O’Neill schon ein Wunder vollbringen müssen, um dem gerecht zu werden, was er will.“ Er winkte den Kellner heran und bat um die Rechnung.
Jack trank sein Glas ebenfalls aus und packte seine Tasche.
„Finde es heraus! Was hast du schon zu verlieren? Leslie weiß, was bei dir los ist und wird sicher nicht so unsensibel sein und dich mit irgendeiner ihrer Vorstellungen überfahren. Außerdem ist Glendalough unheimlich romantisch.“ Jack stand auf und warf sich die Tasche um die Schulter. „Wenn man auf Grün und die Natur steht.“
Julian seufzte. „Ich definitiv nicht. Aber danke, dass du mir zugehört hast. Es ist eine völlig verrückte Situation und ich hoffe, Dad wird mir endlich zuhören. Seit Mums Unfall hat er sich aus unserer Familie verabschiedet. Ich bin mir nicht mal sicher, ob er überhaupt noch an sie denkt.“
Jack kam um den Tisch herum und klopfte ihm auf die Schulter.
„Hey, ich habe deine Mum und deinen Dad gemeinsam noch sehr gut in Erinnerung. Er war großzügig und witzig und deine Mum war liebenswert und eine Meisterin des Schnitzens und der Malerei. Ich weiß noch, wie sie mit uns dieses gigantische Kanu aus einem Baumstamm hergestellt hat. Dein Dad muss sie sehr vermissen, aber das braucht Zeit. Rede mit ihm, okay?“
Julian nickte. „Ich bin bereits gespannt, was er dazu zu sagen hat.“
Jack zuckte mit den Schultern. „Abstreiten kann er es nicht, schließlich war es in seinen Sachen und Diane ist die treueste Seele der Erde, wie du berichtet hast. Wie auch immer. Brian fährt mit dem Auto seines Vaters und sammelt uns alle ein. Sei pünktlich. Um unser aller Nerven willen.“
Es war kurz vor acht am Abend, als Julian durch die Haustür trat.
Seine Nachricht an seinen Vater war unbeantwortet geblieben, daher wunderte es ihn, dass Licht im Wohnzimmer brannte und der Fernseher lief. Normalerweise arbeitete George selbst während einer Schicht am Vormittag bis in die späte Nacht hinein, um zu recherchieren, Telefonkonferenzen zu führen oder seine Praktikanten herumzuscheuchen. Julian ließ Tasche und Jacke am Fuß der Treppe liegen und ging den Flur entlang ins Wohnzimmer.
George Thierney saß am Esstisch vor seinem Laptop. Rings um sich herum hatte er mehrere Papiere ausgebreitet. Er trug noch Hemd und Krawatte und hatte sein Jackett über die Stuhllehne gehängt. Julian hatte das haselnussbraune Haar seines Vaters und seine hohen Wangenknochen geerbt.
Georges Augen jedoch waren grau und blickten konzentriert auf den Bildschirm, während seine Stirn gerunzelt war.
„Hi, Dad“, begrüßte Julian ihn und ging zu ihm. „Hast du meine Nachricht bekommen?“ George hielt in seinem Tippen inne und sah zu seinem Sohn auf. „Oh, nein, mein Handy ist im Wagen. Jede Menge zu tun. Was es auch war, es muss bis morgen warten, ich habe Berge von Arbeit.“ Julian warf einen Blick auf den Bildschirm:
Es waren mehrere Zeitungsartikel, die alle jeweils ein anderes Foto einer jungen Frau zeigten. Mal mit einem Mann, der aussah, als sei er ihr Ehepartner, mal beim Einkaufen oder während einer Rede.
„Dad, es ist wichtig. Mir ist es wichtig“, fuhr Julian fort.
George, der seine Tipparbeit wiederaufgenommen hatte, antwortete seinem Bildschirm: „Junge, ich bin beschäftigt.“
Weiter kam er nicht: Julian packte den Laptop, schob ihn ein Stück nach hinten und schlug ihn zu.
Bevor George mehr tun konnte als aufzuspringen und ihm einen empörten Blick zuzuwerfen, hatte Julian das Ultraschallbild auf den Tisch geworfen. „Erklär mir das, Dad! Deine Arbeit ist mir egal! Diane hat das unter deinen Sachen gefunden!“
George starrte das Bild wie vom Donner gerührt an. An seiner Schläfe pochte eine Ader, sein Atem ging schwer.
Julians ganze Enttäuschung brach aus ihm heraus. „Wann wolltest du mir davon erzählen? Oder bin ich dir tatsächlich so egal?!“
George Thierney seufzte schwer und nahm das Bild in die Hand. „Dieses Bild, Julian, ist weder von mir noch von einer Frau, die ich kenne! Bevor du mit solchen Anschuldigungen auf mich zukommst, solltest du mich fragen.“
Julian verschränkte die Arme. „Was glaubst du, was ich gerade versucht habe? Du wolltest mir nicht zuhören!“
George schluckte und sah das Bild an. „Dieses Bild ist Teil einer Kampagne gegen Abtreibungen, über die ich berichte. Die Redaktion hat eine Menge solcher anonymen Fotos ausgegeben und mir scheint eines zwischen die Akten gerutscht zu sein. Dieses Bild steht in keinerlei Verbindung zu mir.“
George legte das Foto zurück auf die Tischplatte. „Und jetzt lass mich bitte weiterarbeiten. Wir können gern morgen noch einmal darüber sprechen“, sagte er und setzte sich wieder.
Julian kochte vor Wut. „Genau das meinte ich: Dir ist nicht einmal klar, dass ich morgen nach Glendalough fahre. Vor einer Woche habe ich dir erzählt, dass ich mit meinen Freunden an einem historisch-wissenschaftlichen Projekt arbeite und dir heute Vormittag geschrieben, dass ich morgen dorthin fahre. Aber die Arbeit ist dir natürlich wichtiger, wie konnte ich das vergessen!“
Er verließ das Wohnzimmer im Laufschritt, ohne seinen Vater noch einmal zu Wort kommen zu lassen. Was ihn am meisten verletzte, war nicht, dass er selbst falschgelegen hatte, sondern die Gleichgültigkeit, mit der sein Vater ihn behandelte:
Er hatte nicht einmal die Miene verzogen oder Bedauern darüber gezeigt, dass er am Leben seines Sohnes so gut wie gar nicht beteiligt war. Julian packte seine Sachen und flüchtete in sein Zimmer.
Dort angekommen, ließ er sich auf das Bett fallen und starrte an die Decke, auf der mit Ölfarbe das Meer abgebildet war: Hohe Wellen türmten sich an einer steilen Klippe, auf deren Rand ein Leuchtturm stand. Jack hatte recht gehabt: Seine Mutter war eine Künstlerin gewesen - nicht nur als Schnitzerin, auch als Malerin. Julian hatte sich in den vergangenen Jahren jede Erinnerung an sie so gut es ging bewahrt. Werke aus Holz und Figuren, die sie hergestellt hatte, lagerten in einer Vitrine an der Wand, gleich neben seinem Schreibtisch und dem Bücherregal.
Auch zwei ihrer Bilder, eines von dem Ausblick auf das Meer vom Dachfenster ihres Hauses aus, das andere von dem Rundturm der Klostersiedlung Glendalough, dessen Spitzturm imposant in den Himmel ragte.
Deshalb hatte er ein mulmiges Gefühl, wenn er an den morgigen Tag dachte. Zum einen die Sache mit Leslie, zum anderen einen Ort zu besuchen, der auch seine Mutter fasziniert hatte, machten ihn nervös. Doch der Streit mit seinem Vater ließ ihn seine Sorgen vergessen. Wann immer er durch dessen Verhalten verletzt worden war, hatte seine Mutter ihn wiederaufbauen können, sei es mit ihren Hinterlassenschaften oder dem einzigen Hobby, dem er sich neben seiner Schullaufbahn und dem Schwimmen widmete: dem Schnitzen.
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