Nachdem sie vier verschiedene Touren, historische Fakten und ein Miniaturmodell der Siedlung geplant hatten, zerstreuten sich die Mitglieder in die Abteilungen der Bibliothek.
Julian hatte sich über die alten Zeichnungen der Klostersiedlung gebeugt, als Leslie sich neben ihn setzte.
„Entschuldige bitte. Ich habe Brian und den anderen nichts erzählt. Ich war gestern Abend bei dir, um meine Biologie-Ergebnisse abzuholen. Das war alles.“
Julian blickte auf. „Diese Geschichte hat dir Brian vielleicht abgekauft, aber nicht Jack. Wir kennen uns doch seit dem Kindergarten. Sicher vermuten beide längst, dass etwas zwischen uns läuft.“
Leslie stützte sich mit beiden Ellbogen auf dem Tisch ab und musterte die Broschüren. „Vielleicht sollten wir das während des Projekts … zurückstellen, meinst du nicht? Ich denke, für alle von uns geht es um eine zusätzliche Note für den Abschluss in diesem Sommer. Brian wird Football-Star, Jack der nächste Einstein und ich möchte endlich in die Staaten. Aber was willst du machen, wenn du den Abschluss in der Tasche hast?“
Julian sah sie an. Leslie wollte seit ihrer Kindheit raus aus Irland, die Welt entdecken und an einer renommierten Universität in den USA Jura oder Politikwissenschaften studieren. Sie alle hatten ihren festen Plan im Leben. Doch Julian war anders. Er hatte schon immer in der Gegenwart gelebt, hatte sich auf gute Noten und das Schwimmen konzentriert, jedoch nie größere Pläne als einen erfolgreichen Schulabschluss im Sinn gehabt. Seine Freunde waren ihm wichtig und Jack hatte ihm einmal gesagt, dass er sich gut als Lehrer eignen würde, da er Einfühlungsvermögen und Geduld besaß. Wo er diese Eigenschaften bei Julian bemerkt hatte, wusste er selbst nicht so ganz. Vermutlich an einem besonders langen Abend in Temple Bar.
„Weißt du, Les. Ich habe mir darüber noch keine Gedanken gemacht. Aber das mit dem uns klingt gut, das sollten wir unbedingt tun.“
Er hatte es nicht so forsch ausdrücken wollen, doch es war zu spät: Leslie sprang auf und verschwand schnellen Schrittes hinter den Bücherregalen. Vermutlich hatte sie sich mehr erhofft, als er gestern Abend beabsichtigt hatte, ihr zu zeigen.
Sie hatte ihm zugehört, es tat gut, mit ihr zu reden. Doch Julian war nicht der Typ, der ein flüchtiges Abenteuer einging. Von Leslie wusste er, dass sie außerhalb ihrer Clique bereits einige Verabredungen gehabt hatte und die Jungs buchstäblich Schlange standen.
Er seufzte tief und erhob sich. Eine Hand legte sich auf seine Schulter.
Es war Jack, der die Szene mit Leslie scheinbar mitbekommen hatte. „Was ist passiert?“, fragte er. Julian sah auf die Bücherregale, die Leslies Gestalt verbargen.
„Nichts von Bedeutung“, antwortete er knapp. Jack, dessen buschige Augenbrauen sich bei jedem Denkvorgang zusammenzogen, rückte seine Brille zurecht und ließ ihn los.
„Julian, wir kennen uns seit fünfzehn Jahren. Brian hat schon unsere Sandburgen kaputtgemacht, bevor wir laufen lernten. Du benimmst dich seit Tagen so seltsam. Was ist in letzter Zeit mit dir los?“
Doch Julian war nicht in Stimmung für ein vertrauliches Gespräch, während ringsherum Brian und Leslie dem Projekt nachgingen.
„Erzähle ich dir ein andermal, Jack. Danke.“ Er lächelte und ließ seinen Freund am Tisch zurück.
„Weißt du, Jules, wir sollten hinfahren!“, rief Jack ihm hinterher.
Julian blieb wie angewurzelt stehen. „Was? Wohin?“
Jack deutete mit dem Zeigefinger auf den Tisch. „Nach Glendalough. Ruf Brian und Leslie zusammen.“
„Wie hat dir das Steak gemundet?“
Max kaute an der Hintertür des Glendalough Hotels an einem Stück Fleisch, als ich ihn nach meinem Ablenkungsmanöver in der Hotelküche dort antraf. „Das war sensationell, wie dem Koch wie aus dem Nichts der Bräter aus der Hand gefallen ist!“, bemerkte Max und leckte sich die Schnauze. „Vorzüglich, Victoria. Das Steak wie auch deine Unsichtbarkeits-Nummer.“
Ich setzte mich neben ihn in den Kies und tätschelte seinen Kopf. „Betrachte es als Wiedersehensgeschenk nach einem langen harten Winter.“
Der Terrier kratzte sich mit der Hinterpfote am Ohr. „So, nach diesem köstlichen Frühstück brauche ich ein ausgiebiges Bad. Kommst du mit?“ Ich hörte ihm gar nicht zu, sondern beobachtete die Imbiss-Buden und Souvenir-Verkäufer, die am Straßenrand vor der Klosteranlage ihre Läden aufschlugen.
„Tory? Hallo? Ich habe dich was gefragt.“
Ich schreckte aus meinen Gedanken hoch. „Was? Oh, natürlich begleite ich dich. Aber wir sollten vorsichtig sein, die ersten Touristen betreten um diese Zeit die Anlage. Benimm dich …“
„… nicht zu auffällig. Vier Jahre alte Spielregeln kenne ich inzwischen“, beendete Max den Satz.
So machten wir uns Seite an Seite über die gepflasterte Straße und den Parkplatz auf den Weg zum See zurück. Ich hatte gehofft, die Natur würde sich in den nächsten Stunden regen: Die Sonne bräche hinter den Wolken hervor, der Tau auf den Wiesen und Bäumen wiche der Wärme und der Frühling würde sich entfalten.
Doch dem war nicht so: Nebel verdichtete sich über den Bäumen, die Temperatur blieb kühl und der Himmel zog sich weiterhin hinter grauen Wolken zurück.
„Jetzt mal Klartext, Victoria. Du machst dir nach wie vor Sorgen um deine Schlafgewohnheiten, oder?“
Ich schlurfte mehr durch die Wiesen, als dass ich ging. Max hatte recht: Es beschäftigte mich. In den vielen Jahrzehnten, in denen ich hier bereits lebte und mich um die Natur kümmerte, hatte mich stets der Frühling erweckt. Doch dieses Mal war keine Spur von ihm zu sehen.
„Es bereitet mir Sorgen, Max. Etwas ist anders. Wir sollten in den nächsten Tagen die Augen offen halten. Vielleicht passiert etwas“, sagte ich, während wir an der Ruine der alten Kapelle vorbeigingen.
„Zum Beispiel ein Riesen-Tsunami? Eine Heuschrecken-Plage oder doch die Sintflut?“
Ich zuckte mit den Schultern. „Deine Besitzerin scheint zu oft die Bibel mit dir durchgegangen zu sein. Ehrlich gesagt weiß ich nicht, was auf mich zukommt. Vielleicht beschließt die Königin ja doch, mich …“, ich verstummte. Der Gedanke war mir bereits heute Morgen gekommen, als ich mit Max auf dem Weg zu ihr war. Rief sie mich womöglich zu sich? Hatte ich meine Zeit in diesem Tal verbüßt?
Ein lautes Platschen lenkte mich ab, als Max aufgeregt ins Wasser sprang und sich sogleich mit der Schnauze auf die Suche nach Fischen begab. Ich setzte mich auf den niedrigen Hang, der vor der dunklen Wasseroberfläche in Sand überging, und sah ihm eine Weile zu. Mit der Handfläche strich ich über das gefrorene Gras und konzentrierte mich dabei auf die Energie, die durch meine Finger pulsierte. Ich sah hinab und bemerkte, wie der Frost sich zurückzog und die Fläche unterhalb meiner Hand trocken und saftig grün geworden war.
Zugleich verschwamm mein Blickfeld und ein Stechen jagte durch meinen Kopf. Mit beiden Händen krallte ich mich am Boden fest.
Meine Kräfte waren noch nicht wiederhergestellt. Normalerweise beschleunigte der Frühling meine Regeneration, doch dieses Jahr spielte scheinbar alles verrückt.
Ich stand langsam auf, ohne Max in seinem Bestreben, einen Fisch zu fangen, zu unterbrechen, und ging schnellen Schrittes den Hang hinauf zum Wanderweg. Neben dem Besucherparkplatz befand sich eine Koppel, die einem örtlichen Bauern gehörte. Drei Pferde standen dort und blickten mir entgegen, als ich auftauchte.
„Hey, da ist ja diese Fee wieder. Victoria, was ist los, du siehst so gestresst aus?“, rief mir eines der Pferde nach. Ich ignorierte es geflissentlich. Bei Tieren war es wie bei Menschen: Manchen Individuen hörte man am besten nicht zu. Mein Ziel war eine kleine Scheune, etwa fünfzehn Minuten von der Klostersiedlung entfernt.
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