Wieso auch? Er hatte sich entschieden.
Er griff in seine Hosentasche und nahm das kleine Lederetui heraus. Er öffnete es vorsichtig. Leise, ganz leise schnappte es auf.
Doch nicht leise genug, denn es drang in den Schlaf der Frau. Etwas war hier, etwas, das nicht hierhergehörte.
Beatrice von Arlsberg schlug die Augen auf.
Isabella von Ayschhofen, Beatrices Tochter, wurde unruhig. Zu lange, bereits seit fast einer Stunde, war ihre Mutter verschwunden, wo sie sich doch nur einen kurzen Moment lang hatte ausruhen wollen.
„Hast du Beatrice gesehen?“, fragte sie ihren Bruder Matthias, der mit einem Glas Sekt in der Hand gerade an ihr vorbeiging. Beide sprachen ihre Mutter stets mit dem Vornamen an, sie hatte es so gewollt. Vielleicht glaubte sie, es würde sie jünger erscheinen lassen. Wer weiß.
„Ich sah sie vorhin in Richtung ihres Arbeitszimmers gehen, wenn ich nicht irre“, erwiderte Isabellas Bruder. „Wahrscheinlich ging ihr der Krach hier auf die Nerven“, fügte er schmunzelnd hinzu.
„Kann schon sein. An und für sich hat sie für derartige Feiern ja nicht allzu viel übrig. Und heute finden die Gäste ja überhaupt kein Ende“, erwiderte seine Schwester.
„Vielleicht sollten wir mal nach ihr sehen“, meinte Matthias. „Ihr kann ja auch schlecht geworden sein.“
„Beatrice? Niemals!“, winkte seine Schwester ab. „So etwas wie das Wort Krankheit, existiert doch für sie überhaupt nicht.“
„Ich sehe trotzdem mal nach. Kommst du mit, Isabella?“
„Natürlich“, erwiderte diese und hakte sich bei ihm ein.
Die Feier war noch voll in Gange. Die beiden Angehörigen der Gastgeberin vermisste man da nicht. Die Gäste hatten mit sich selbst zu tun. Das Buffet war ein Gedicht und zog immer wieder aufs Neue Interessierte an.
Isabella und Matthias schlenderten indessen den Gang entlang, der zum Arbeitszimmer ihrer Mutter führte. Isabella wollte die Tür öffnen, doch sie war verschlossen.
„Was soll das denn?“, fragte sie überrascht.
„Beatrice! Beatrice, bist du da drin? Ist alles in Ordnung?“, rief Matthias besorgt.
Keine Antwort.
„Verstehst du das?“, fragte Isabella, bis jetzt nur verwundert, aber keineswegs besorgt.
„Das sieht ihr aber gar nicht ähnlich. Sie schließt die Tür doch nie ab“, meinte Matthias, der nun doch beunruhigt wirkte.
„Ich versuche vom Garten aus in das Zimmer zu gelangen. Warte du besser hier“, empfahl er seiner Schwester.
Isabella nickte. „Aber beeil dich. Ich habe plötzlich ein ganz komisches Gefühl“, erwiderte sie nervös.
Matthias nickte und eilte davon.
Isabella trat unruhig von einem Fuß auf den anderen. Irgendetwas stimmte da nicht. War Beatrice etwas passiert?
Sie hatte sich gerade dazu entschlossen ihrem Bruder zu folgen, da drehte sich der Schlüssel im Schloss.
Die Tür schwang auf.
Isabella musterte ihren Bruder, der kreidebleich im Gesicht vor ihr stand.
„Was ist passiert?“, flüsterte sie.
Matthias gab zögernd den Eingang frei.
Mit einem mulmigen Gefühl trat Isabella ein.
Kriminalhauptkommissar Felix Heckert, fünfundfünfzig, mittelgroß, etwas untersetzt, kurzes graumeliertes Haar, intelligente graue Augen, musterte aufmerksam die Tote, die im Sessel saß und aussah, als schliefe sie.
„Ist sie eines natürlichen Todes gestorben?“, wollte er von dem Rechtsmediziner Dr. Eugen Roth wissen.
„Ich kann Ihnen das noch nicht beantworten, Felix. Aber die Wunde am Hals, dieser kleine Schnitt, lässt mich eher das Gegenteil vermuten“, erwiderte der Mediziner.
„Wahrscheinlich haben Sie recht. Also gehen wir mal vom Schlimmsten aus“, entschied der Kommissar.
„Eine gute Entscheidung. Denn nach Aussage der Tochter, war ihre Mutter nicht nur kerngesund, sondern hat sich erst vor zwei Wochen von ihrem Arzt gründlich durchchecken lassen.“
„Und wenn sie so gesund war, woran ist sie dann gestorben?“, fragte Kommissar Markus Jansen, ein durchtrainierter, schlanker Mann mit dunkelblondem Haar und warmen braunen Augen, Heckerts Freund und Kollege.
„Gute Frage, Markus. Was meinen Sie dazu, Eugen?“
„Ich meine noch gar nichts dazu, liebe Kollegen. Von mir erfahren Sie erst nach der Obduktion etwas. Wie Sie wissen, halte ich nichts von irgendwelchen vorschnellen Spekulationen“, verweigerte sich der Arzt.
„Nun sperren Sie sich doch nicht so. Wir möchten doch nur nicht unnötig in einem Fall ermitteln, dem eine ganz normale Todesursache zugrunde liegt“, erwiderte der Kommissar.
„Also, seien Sie nett, Doktor, und geben Sie mir einen Tipp. Starb sie eines natürlichen Todes oder eher nicht? Kommen Sie Eugen. Nun geben Sie ihrem Herzen schon einen Stoß“, bat Heckert.
„Also gut, Felix. Aber ich habe nichts gesagt“, baute der Arzt vor. „Meiner Meinung nach hat man sie vergiftet. Womit, das kann ich im Moment allerdings nun wirklich noch nicht sagen.“
„Und was bringt Sie zu dieser Annahme?“
„Nichts wirklich Konkretes, nur ein Gefühl, die Wunde am Hals, ihr maskenartiger Gesichtsausdruck, der auf Atemlähmung hinweisen könnte. Nervengifte rufen ähnliche Symptome hervor.
Allerdings könnte natürlich aber auch ein ganz normaler Herzinfarkt der Auslöser gewesen sein“, hielt sich der Rechtsmediziner wie immer eine Hintertür offen.
„Aber Sie glauben nicht wirklich an einen Herzinfarkt, oder?“, fragte Heckert.
„Das haben Sie gesagt“, erwiderte der Mediziner lächelnd.
„Also doch ein neuer Fall“, seufzte der Kommissar.
„Aber falls es Mord war, dann bestimmt kein Raubmord“, meinte Kommissar Jansen. „Beraubt wurde sie nämlich ganz offensichtlich nicht. Die Rolex an ihrem Handgelenk ist mindestens sechzigtausend Euro wert, wenn nicht noch mehr. Ich frage mich nur, wieso eine so kostspielige Uhr einfach stehenbleibt.“
„Wieso? Was meinst du damit?“, fragte Heckert verwundert.
„Die Uhr ist um Punkt drei Uhr stehengeblieben, aber wieso?“
„Vielleicht hat jemand die Batterie herausgenommen“, meinte der Kommissar mehr im Scherz.
Markus Jansen sah seinen Chef nachdenklich an. „Das lasse ich überprüfen“, sagte er und eilte davon.
Kommissar Heckert sah ihm kopfschüttelnd hinterher.
„Du hattest recht, Felix“, rief Kommissar Jansen schon von weitem, als er wieder zurückkam. „In der Uhr fehlt tatsächlich die Batterie.“
„Aber was soll das? Wer trägt am Handgelenk eine Uhr, die nicht funktioniert? Noch dazu eine so kostspielige?“, fragte Heckert verblüfft.
„Vielleicht hat ja der Täter die Batterie entfernt“, dachte Jansen laut. „Aber warum?“
„Vielleicht, um uns auf genau diese Uhrzeit aufmerksam zu machen“, meinte der Hauptkommissar nachdenklich.
„Du meinst, Mord! Punkt drei Uhr?“
„Ja, das meine ich. Und ich hoffe, dass es nur bei diesem einen Mord bleibt“, erwiderte Heckert. „Denn das mit dieser Uhr gefällt mir überhaupt nicht.“
„Hoffentlich artet das nicht wieder zu einem dieser kniffligen Fälle aus, Felix. Das wird nicht einfach“, seufzte Markus Jansen.
„Das ist es doch fast nie, Markus“, winkte Heckert ab.
„Ja, aber wenn es um die Wohlhabenderen in unserer Gesellschaft geht, ist es manchmal ganz besonders kompliziert.“
Nach den Befragungen einiger Gäste wurde klar, dass diese von dem, was in dem Arbeitszimmer der Hausherrin passiert war, das zudem entfernt im anderen Trakt des Gebäudes lag, nichts mitbekommen hatten. Und das sich unter ihnen der Täter aufhielt, so es sich denn wirklich um einen Mord handelte, hielt Kommissar Heckert für nicht sehr wahrscheinlich.
Also beschloss er, sich auf den Sohn und die Tochter der Verstorbenen zu konzentrieren.
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