Ihm war klar, dass er sich umstellen und an die geänderten Gegebenheiten anpassen müsste. Eine Beziehung war nie einfach, aber man gewöhnte sich notgedrungen an den Anderen. Wie viele seiner Freunde fühlten sich gemeinsam einsam? Vielleicht sollten sie es auch einmal mit einer Indianerin versuchen, oder weiß Gott, welche Rasse sie bevorzugten. Viele heirateten Mexikanerinnen oder Latinas. Die konnten zuweilen recht starrköpfig sein und hatten oftmals Schwierigkeiten, sich auf einen traditionellen Gringo einzustellen. Die mexikanischen Männer waren häufig Machos und die Frauen auf ein althergebrachtes Geschlechterbild fixiert. Er würde Ahyoka fragen, welchen Typ Mann sie favorisierte. Wahrscheinlich war es ihr egal, solange er nur die Ladestation mit Strom versorgte.
Trotzdem wäre es interessant zu erfahren, welche Typen diese Maschinen-Menschen bevorzugten. Dabei hatte er sich vorgenommen, nicht von ihr als Roboter zu denken. Das führte nur zu Verwirrung. Er musste sich auf ihre Bestimmung als seine Lebensgefährtin festlegen. Wie könnte er sonst mit ihr über Manipulation seit Kindesbeinen diskutieren, wenn er sie nur als programmiert wahrnähme?
Andy nahm sich vor, zwar eine gewisse Distanz aufrechtzuerhalten, nicht alles zu bagatellisieren, sie aber trotzdem als gleichrangig zu betrachten. Wenn er sich mit Freunden unterhielt, ginge er ja auch davon aus, dass man sich aufeinander einstellte. Man lernte voneinander, nahm an den Erfahrungen des Gegenübers teil, akzeptierte sich eben.
Er würde Ahyoka wie ein Kind behandeln, das in einer unterschiedlichen Welt lebte. Auch das Umfeld von Kindern, bevölkert von Fabelwesen, beherrscht von irren Einfällen war ja so viel anders als die nüchterne Vorstellungskraft eines Erwachsenen. Andy wollte sich auf seine androide Partnerin einstellen, versuchen, an ihren Gedanken teilzuhaben. So wie man mit Heranwachsenden den eigenen Horizont erweitern konnte, so würde er die Sichtweise Ahyokas zu begreifen suchen. Wenn er den gestrigen Tag Revue passieren ließ, war das doch ganz gut gelungen. Sie hatten sich gegenseitig beflügelt. Er musste zugeben, dass ihn die Kindheitserfahrungen seiner Geliebten faszinierten und erregten. Er freute sich bereits auf weitere Erlebnisse aus ihrem Leben, an dem er im Nachhinein teilnehmen dürfte.
So wie ihm seine eigenen Geschichten manchmal einem anderen Leben entsprungen schienen, wollte er von Ahyoka lernen. Es war, wie in einem Buch lesen. Auch dort setzte man sich mit den Abenteuern und Erfahrungen fremder Menschen auseinander. Ihre Erlebnisse würden ihn an einer anderen Welt teilhaben lassen. Auch die Charaktere der Literatur waren ja nicht aus Fleisch und Blut. Letztendlich ging es weniger um den Wahrheitsgehalt als die Authentizität. So wie das Mädchen im Himalaya, das auch nur ein Märchen erzählte, zu einer Story geworden war, einer Geschichte, die sich Bergsteiger erzählt hatten, als er damals in Katmandu lebte.
Sie kauert auf dem höchsten Friedhof der Erde. Um sie ist die Luft gefroren, hinter ihrem Rücken bewegen sich riesige Geröllhalden, über die sie heruntergekommen ist. Manchmal stürzen Lawinen donnernd vor ihr in die Tiefe. Von dem Gipfel trennt sie nur noch ein Tag. Kommen Bergsteiger auf dieser Route vorbei, verweilen sie einen Augenblick, manche heben wie zum Gruß die Hand.
Sie hatte auch einmal davon geträumt, für wenige Minuten ihres Lebens auf dem Mount Everest zu stehen. Träume, die eine Ewigkeit zurücklagen. Sobald die Mittagssonne die Eisfelder antaut, flattern die zerzausten Haare des Mädchens im Wind. Wenn ihr dann das Schmelzwasser die Wangen herunterrinnt, ist es, als liefen Tränen aus ihren schreckgeweiteten Augen. Vor Jahren war sie diesen Abhang heruntergestürzt, hatte sich kurz vor dem Abgrund gefangen, verharrte jetzt auf über 8,000 Metern.
Es scheint, als kehrte das Leben zurück, wenn Haarsträhnen von der Sonne erwärmt in der eisigen Luft wehen. Den Bergsteigern, die sie auf ihrer Gratwanderung zu Gesicht bekommen, wird sie für immer im Gedächtnis bleiben. Mit ihrer blonden Mähne folgt sie ihnen zuweilen in sehnsüchtige Träume, obwohl doch das Herz des Mädchens schon lange zu Eis erstarrt ist.
Einmal das Unmögliche wagen, wollte sie, als sie damals mit ihren Freunden aus der Schweiz aufbrach. Die anderen waren längst zurückgekehrt, versuchten noch immer, den Albtraum zu vergessen, dass ihre Freundin von Eis und Geröll davongetragen worden war. Sie hatten sich nie wiedergesehen, wussten nicht einmal, dass sie an eine Schneewechte gelehnt seit Jahren hier oben kauerte, darauf wartend, dass die Sonne sie für Augenblicke wieder zum Leben erweckte.
Irgendwann würden die Gefährten sterben und die Erinnerung an sie verblassen. Das Mädchen war in der Kälte unsterblich geworden. Nicht als Zweiundzwanzigjährige, sondern Legende, die sich diejenigen erzählten, die sie zu Gesicht bekommen oder wenigstens von ihr gehört hatten.
Auch Ahyoka würde diese Story nie vergessen, nachdem sie ihr Andy erzählt hatte. Sie war mit dem Spruch der amerikanischen Dichterin Muriel Rukeyser vertraut: 'Das Universum besteht aus Geschichten, nicht aus Atomen.'
Manchmal kam es ihr vor, als sei auch sie nur aus Erzählungen konstruiert. Dann dachte sie an Hemingway: 'Nur wenige Menschen sind wirklich lebendig und die, die es sind, sterben nie. Es zählt nicht, dass sie nicht mehr da sind. Niemand, den man wirklich liebt, ist jemals tot.'
Sie wollte alles dareinsetzen, dass Andy sich in sie verliebte. Sie wusste, erst damit hätte sie die Chance, wirklich lebendig zu werden, sich aus der Totenstarre einer Maschine in ein liebenswertes Wesen zu transformieren.
Sollte sie versuchen, wie Ava nach bestandenem Test, das Weite suchen, oder gab es das Happy End von Ex Machina nur in Hollywood? Wer weiß, vielleicht würde sie ihre Heldin einmal am Times Square treffen und über ihre Zukunftspläne ausfragen.
Als Andreas abends heimkehrte, freute er sich bereits auf das Gespräch mit seiner neuen Geliebten. Er wollte mehr vom Schicksal ihrer Vorfahren hören. Vielleicht konnte er Ahyoka auch dazu bringen, ihm die Fortsetzung ihrer Geschichte in der Pflegefamilie zu erzählen.
Das Mädchen hatte sich für ihn feingemacht. Der Mann fühlte sich vom Glück geschüttelt. Die Androide hatte zwar eher knabenhafte Proportionen, aber ihre Brüste hätten jedem Ladyboy zur Ehre gereicht. Ihre schwarze Mähne umfloss ihr ovales Gesicht und ihre dunklen Augen strahlten ihn fast unheimlich an, als er sie mit einer liebevollen Umarmung begrüßte.
Vermutlich hatten die chinesischen Designer noch nie eine waschechte Indianerin vor Augen gehabt. Doch sie hatten getreulich alle Klischees bedient, von den hohen Wangenknochen bis zur Nase, die sich leicht bog. Das energische Kinn und die vollen Lippen schienen ihm zwar fehl am Platz, aber wann hatte er seine letzte Squaw gesehen. Er war sich auch nicht sicher, ob der olivfarbene Teint und die wohl geformten langen Beine mit den festen Oberschenkeln und schlanken Fesseln typisch indianisch waren. Die meisten Abbildungen von indigenous People zeigten eher kleine gedrungene Gestalten mit braunen wettergegerbten Gesichtern. Aber dann sollte man es mit der Authentizität auch wieder nicht übertreiben.
"Was hast du denn heute den ganzen Tag gemacht?"
"Ich habe über deine Frage nachgedacht, was den Indianerinnen geschehen ist. Es ist eine lange Geschichte der Verluste ihres Lebensraums, ihres Volkes, der Tiere, die einmal ihre Lebensgrundlage waren, und schließlich ihrer Identität. In knapp 500 Jahren Kriegen, Massakern und Vertreibung wurde die indianische Kultur fast komplett ausgerottet. Viele der Überlebenden vegetieren unter erbarmungswürdigen Zuständen in Reservaten. So wie die Aborigines in Australien und Kanada, wo man die Ureinwohner genauso nennt, sind auch viele Indianer alkoholkrank oder haben sich aufgegeben."
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