Als sich der übelriechende Qualm etwas verzog, hockte ein Osterhase auf dem Buch und rümpfte ebenso das kleine, schwarze Näschen.
„Siehste – ganz einfach!“, lachte Alfons schelmisch und setzte den Hasen zu Boden und sich daneben. „Also – tauschst du?“
„Nein.“ Miracle sah Alfons direkt in die Augen und irgendwie auch hindurch – direkt in sein Herz. Er hielt den Blick einige Augenblicke ohne einen einzigen Wimpernschlag aufrecht.
Dann meinte er: „Siehst du denn nicht, dass nur du du bist? Siehst du denn nicht, dass nur du die Menschen so berühren kannst mit deiner Kunst wie genau du es tust? Welche Werte stellst du über dich, dass du dein wahres Selbst, dein ganzes Wesen verleugnen willst um dich wie eine Schlange zu häuten und nicht mehr du selbst zu sein? Tu’s nicht!“
Miracle sah dem Märchenerzähler noch immer unverwandt in die braunen Augen und konnte sich selbst in der Spiegelung der Augäpfel erkennen.
Der alte Alfons senkte den Blick und schaute dann auf den See hinaus, wo er das erste Mal an diesem Spätnachmittag den glühendroten Sonnenuntergang auch wirklich wahrnehmen konnte. Tränen lösten sich langsam in den Augenwinkeln und bahnten sich einen nassen Weg bis hin zu seinem Kinn, wobei ein paar Kullertränen von seinen Barthaaren herunter in den Sand tropften. „Aber ich hab doch keine Lust mehr …“
„Wer soll es für dich tun?“, fragte Miracle während er sich wieder seine Sachen anzog. „Wenn ich den Mantel anziehe, dann kannst du mir vielleicht – nach sehr, sehr langer Übungszeit – einen Osterhasen entlocken. Aber trotzdem werde ich niemals ein guter Zauberer und auch kein guter Märchenerzähler sein oder werden, denn mein Weg ist nicht dein Weg. Ich muss die Menschen auf meine Weise berühren. Und du auf deine. Besser ist, wir machen beide unseren Job so gut wie möglich. Und vielleicht schickst du mir jemanden, der meine Weisheit braucht. Und vielleicht schicke ich jemanden zu dir, der deine Künste braucht.“ Miracle nickte fast unmerklich. „So sind wir schon zwei, die ihre Berufung angenommen haben!“
„Berufung?“, fragte Alfons, hellhörig geworden. „Darüber habe ich noch gar nicht nachgedacht.“
Er verfolgte mit den Augen einen kleinen, grau-braun gefiederten Vogel, der gerade vom Ufer zurück auf einen Baum flog. „Du meinst allen Ernstes, wir müssen uns um unsere Berufung kümmern?“
„Ja“, meinte Miracle schlicht ohne den Blick vom See, der ins Abendrot getaucht war, abzuwenden.
Es war wieder einen Augenblick still am Seeufer. Alfons nahm sein altes Märchenbuch zur Hand und schaute sich den wunderschön gestalteten Ledereinband an. Sein rechter Zeigefinger fuhr die seichten Kurven des noch warmen Materials nach.
„Märchen erzählen und zaubern … - meine Berufung?“ Alfons sagte es mehr zu sich selbst und zu Miracle gewandt: „Wirklich??“
„Ja“, meinte Miracle wiederum schlicht und dann schauten beide wieder auf den stillen See. Miracle konnte die Zweifel des Mannes fast körperlich spüren. „Sag, Märchenerzähler“, hob er daher an, „könntest du denn gänzlich ohne Märchen und ohne die Zauberei leben? Ich meine … - bis ans Ende deines Lebens nicht mehr zaubern, keine Geschichten mehr erzählen und vor allem nicht in die leuchtenden Augen deiner Zuhörer blicken …“
Der Märchenerzähler beobachtete zwei Enten, die langsam durch das Wasser zu einer anderen Stelle schwammen und kleine Wasserringe in das Seewasser zeichneten. Dann blickte er sich ruhig zu Miracle um. „Nein“, meinte er schlicht.
Miracle stand auf. Ihm fröstelte ein wenig. „So lass uns unserer Wege ziehen und uns die Talente nutzen, die der liebe Gott – oder wer auch immer dafür zuständig war –, uns mit auf die Erde gegeben hat. Damit ist allen am allerbesten geholfen!“
Auch Alfons stand auf und plötzlich und heftig umarmte er Mister Miracle, um ihn dann genau so schnell wieder loszulassen. „Du hast Recht, mein Freund. Du hast recht!“ Alfons sammelte seine Sachen auf und sagte dann in Miracles Richtung: „Vielen Dank! Gott segne dich!“
Und dann gingen sie ohne sich noch einmal nach dem anderen umzudrehen in die entgegengesetzte Richtung, ein jeder mit einem kleinen, sanften Lächeln auf den Lippen.
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