»Die Kanten sind alle sauber verleimt«, versicherte Murat und reichte Andreas zwei Werkzeugkoffer.
»Gut. Dann steigt mal ein. Wir sind schon spät dran.« Markus Derkwert schloss die Türen und setzte sich ans Steuer. Murat und Andy stiegen hinten ein.
Er fuhr los und schaltete das Radio an, denn heute gab es komischerweise keine Gespräche. Murat sah seinen Freund zwar von Zeit zu Zeit irritiert an, aber Andy hatte seine Nase in ein Buch gesteckt. Das war auch gut so, denn so sah man Andys Gesicht nicht. Er war heute schon den dritten Tag beklagenswert unrasiert. Bei den Kunden kam es für gewöhnlich nicht gut an, wenn man aussah wie ein Räuberhauptmann. Markus sah in den Rückspiegel und betrachtete Andys Haarschopf, der tief über sein Buch gebeugt war.
»Der Koran? Seit wann interessierst du dich denn für Religion?«, fragte Markus überrascht.
Andreas zuckte mit den Schultern. »Seit ein paar Wochen«, murmelte er.
»Und wieso? Nix für ungut, Murat«, setzte Markus hastig hinzu, »ich finde das nur etwas ungewöhnlich.«
»Ich auch. Willst du konvertieren, Andy? Das kannst du bei uns in der Moschee tun«, versicherte Murat eifrig. Andreas brummelte nur etwas Unverständliches und las weiter.
Markus und Murat tauschten einen verständnislosen Blick im Rückspiegel.
»Endlich Pause.« Erleichtert gesellte sich Murat zu Andy, der lustlos an seinem Brot kaute, und zündete sich eine Zigarette an. Sofort hob Andy den Kopf und sah seinen Freund scharf an.
»Was ist denn?«, fragte der verwundert.
»Da fragst du noch? Du rauchst!«, donnerte Andy.
»Ja, und?«
»Du weißt doch, dass das verboten ist?«
»Verboten? Hä?«
»Na, bist du nun Moslem oder nicht?«, fragte Andy scharf.
»Natürlich bin ich einer. Vom Rauchen steht nichts im Koran!«
»Aber dass man seinem Körper keinen Schaden zufügen soll! Und dass Rauchen schadet, ist ja wohl bekannt!«
»Langsam glaube ich, du spinnst. Wo kommt das denn auf einmal her?«
Ärgerlich schüttelte Andy den Kopf. »Nur, weil ich mein Leben lang in einer geistigen Wegwerfgesellschaft gelebt habe, muss das ja nicht heißen, dass es so bleibt. Sieh doch nur einmal fern. Wie viele nackte Brüste du da zu sehen bekommst!«
Murat grinste. »So schlimm ist das ja nun auch wieder nicht.«
Andreas schüttelte verächtlich den Kopf.
»Deinen Humor hast du heute wohl zu Hause gelassen?« Murat musterte seinen Freund besorgt. »Wirst du jetzt etwa zu so einem Fanatiker? Was sagt denn Jana dazu?«
Andreas‘ Gesicht verfinsterte sich. »Ich soll ein Fanatiker sein? Nur, weil ich die Worte des letzten Propheten befolge, den Gott uns geschickt hat?«
»Das ist immer so eine Sache mit der Auslegung. Selbst Experten haben Probleme, das Arabisch von damals korrekt zu übersetzen.« Murat warf seine Zigarette weg, und trat sie aus. Andreas brachte es fertig, dass einem nicht einmal mehr die Pausenzigarette schmeckte! Als er seinen Fuß wegnahm, bemerkte er etwas Rosiges und Rundes neben dem zertretenen Stummel.
»Was ist denn das?« Er sah auf das fast aufgegessene Brot seines Freundes.
»Bist du deswegen so schlecht drauf? Weil dir dein Schinken runtergefallen ist?«
»Runtergefallen? Das ist Schweinefleisch!«, donnerte Andreas. »Ich sollte mir meine Brote besser selbst schmieren!«
»Tja, Schweinefleisch esse ich auch nicht, aber dass du ... Ich meine, man kann sich schlecht vorstellen, dass du ohne Currywurst leben kannst.«
»Oh, doch. Und wie ich das kann.«
Murat warf einen Blick auf das finstere Gesicht seines Freundes. Der zottelige Vollbart, der dort zu wachsen begann, betonte nur noch den freudlosen Eindruck, den man von Andy heute bekam. Er hatte eigentlich ein offenes, freundliches Gesicht gehabt. Jetzt konnte man beinahe Angst vor ihm bekommen.
»Ey, Alter ... Hör mal, es ist ja total super, dass du konvertieren willst und so, aber sieh das bitte etwas lockerer, okay?«
»Locker? Es steht doch alles ganz klar im Koran und den Hadithen geschrieben! Da gibt es nichts dran zu ruckeln!«
»Ich hab dir doch schon gesagt, dass vieles nicht genau übersetzt wurde. Und es gibt ungefähr eine halbe Million Hadithe! Nicht alles, was überliefert wurde, ist auch tatsächlich genau so gewesen, wie die Zeitzeugen es erlebt haben wollen. Da haben viele noch was zugedichtet. Guck dir doch an, was da drinnen abgeht.« Murat wedelte mit der Hand in Richtung des Hauses, in dem die Maler gestern noch gestrichen hatten. »Der Alte sagt, im Baumarkt hätte der Mitarbeiter gesagt, Rubinrot passt am besten. Seine Alte behauptet, es wäre Dunkelrot gewesen. Die waren erst gestern da, aber jetzt wissen sie schon nicht mehr, wie die Farbe hieß, die an die Wand gepinselt wurde! Menschen sind halt nicht perfekt. In drei Jahren wissen die mit Sicherheit überhaupt nicht mehr, was sie da an der Wand haben. Oder spiel doch mal ‚stille Post‘. Da siehst du erst, was am Ende rauskommt, wenn ein paar Menschen einen Satz weitergeben sollen. Du nimmst das echt zu ernst!«
Finster sah Andreas seinen Freund an. »Du bist ja ein feiner Moslem«, brummte er verächtlich und ging zurück ins Haus.
»Und du machst mir langsam Angst«, murmelte Murat und folgte ihm.
Aus Andreas Ganzigers Tagebuch
Murat hat mich heute gefragt, warum.
Ausgerechnet ein Moslem fragt mich, wieso ich konvertiere?
Zuerst war ich auch voller Zweifel. Ich hatte für Religion nichts übrig. Der Buddhismus schien mir ganz okay zu sein. Aber dort gibt es keinen Gott. Der Islam erkennt den Buddhismus nicht an, nur die Religionen der Schrift, also Christentum und Judentum. Trotzdem sind auch das Ungläubige, die sich weigern, den Islam anzunehmen. Sie werden ebenfalls die Bewohner des Feuers sein. Ja, zuerst war ich sehr skeptisch. Und ich dachte, jedem das seine, soll doch jeder glauben, was er will. Aber dann fand ich durch Allahs Gnade an jenem Tag einen Koran in der Straßenbahn. Es war ein Samstag, und in der Innenstadt waren welche verteilt worden. Scheinbar hatte jemand in der Bahn darin gelesen und ihn dann in seiner Dummheit einfach zurückgelassen, weil er nicht verstehen wollte. Metin gab mir später meinen Koran, den mit dem Golddruck, als ich mehr wissen wollte und daher Kontakt zu ihm gesucht hatte. Metin nahm mich auch mit in unsere Moschee. Da drinnen erfüllte mich ein Gefühl von Frieden, Geborgenheit. Zugehörigkeit. Ich habe mich sofort wohl gefühlt.
Es war, als wäre ich nach Hause gekommen.
Im Koran habe ich zuerst nur geblättert. Er ist etwas schwer zu lesen, aber wenn man sich darauf konzentriert, geht es schon. Und man kann online nach bestimmten Suren suchen. Auch die Ahadithe findet man im Internet. Ich war sehr überrascht, wie komplex diese Religion ist. Mit fünfmal Beten am Tag und auf Schweinefleisch verzichten ist es nicht getan. Jeder Aspekt des Lebens ist geregelt. Die Suche nach einem Sinn im Leben entfällt sofort. Auch die Frage »mache ich dieses und jenes richtig oder nicht?«, wird beantwortet. Es war eine Erleichterung. Dieser Glaube hat so etwas reines, Sinnvolles. Man lebt so, wie Gott es will. Endlich tut man das Richtige und konzentriert sich mindestens fünfmal am Tag auf Gott. Und man gehört zu einer enorm großen Gemeinschaft. Es ist ein tiefes Gefühl von Frieden und Zugehörigkeit. Man zählt als Mensch, nicht mehr nur als jemand, der die tollsten Klamotten trägt, am besten aussieht oder die meisten Biere trinkt. Mir dröhnte erst der Kopf, weil ich so vieles falsch gemacht hatte, aber durch die Konversion ist man wie neu geboren. Alle Sünden sind vergeben. Ich gehöre jetzt zu denen, die sehen können. Metin hat mir so vieles erklärt … unsere Welt ist eine einzige Lüge, in der die Menschen sich von Propaganda und schlechten Filmen einschläfern lassen. Er zeigte mir solche Filme und Fernsehserien. Ich kannte einiges davon, aber mir war nicht klar, welchen Sinn sie erfüllen.
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