Charlie Meyer - Ehre, wem Ehre gebührt
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»Nein, Anton, nicht morgen. Jetzt! Ich werde keinen Pathologen in die Nähe des Jungen lassen, ob mit oder ohne deine Hilfe. Das Bestattungsinstitut Noblesse wird sich um ihn kümmern, und damit ein für alle Mal. Basta! Morgen früh wähle ich in der Stadt den Sarg aus, und in spätestens drei Tagen setzen wir Quentin in der Familiengruft bei. Seinem Titel und Stand entsprechend. Der Arzt soll mir den Totenschein ausstellen. Sofort! Und schick endlich die Sanitäter und Polizisten nach Hause, es gibt hier nichts mehr für sie zu tun.«
»Du überschätzt meinen Einfluss, liebe Freundin.«
»Nein. Ich kenne das Ausmaß deines Einflusses nur zu genau. Die Erfüllung meines Wunsches kostet dich nicht mehr als ein Fingerschnippen. Aber vielleicht reizt es dich auch, mir diesen Gefallen abzuschlagen. Nun?«
Der alte Herr ergriff die knochige Hand, die ihm entgegengehalten wurde, mit der eigenen knochigen Hand und führte sie an die dicken Lippen. Die Gräfin verzog kaum merklich das Gesicht über seinem Hinterkopf, während er mit seltsamer, fast schon höhnischer Miene ihre faltigen Finger anlächelte. »Ich nehme an, bei dem Wagen, der eben auf den Gutshof gefahren kommt, handelt es sich bereits um Abgesandte des fraglichen Bestattungsinstitutes? Meine Hochachtung, Mina. Du verschwendest keine Zeit und triffst rasche Entscheidungen. Eine Eigenschaft, die ich durchaus zu schätzen weiß. Ich vermisse diesen Charakterzug bei vielen meiner Geschäftspartner. Leider, leider. Aber dafür sind wir beide uns umso ähnlicher, meine liebe Mina. Wirst du dich für Rosenholz oder Mahagoni entscheiden?« Wieder lächelte er. Der Widerschein des Kaminfeuers färbte seine Glatze und den silbernen Schnurrbart rot. Altersflecken übersäten Gesicht und Hände.
Die Gräfin ignorierte seine letzte Frage. »Ja, ich war so frei, das Institut telefonisch zu verständigen. Unmittelbar, nachdem ich dich um Beistand gebeten hatte.« Sie blickte ihn gerade und stolz an. Von bettelnder Unterwürfigkeit keine Spur.
»Gute Nacht, Mina.« Er zögerte, schien noch etwas sagen zu wollen, während sich die Flammen des Kamins in seinen Brillengläsern spiegelten. Doch dann deutete er lediglich in Bonnies Richtung eine Verbeugung an, murmelte kaum verständlich Frau von Storkenburg , und humpelte über die unregelmäßige Teppichschicht zum Ausgang. Der zweimal des Zimmers verwiesene Polizist wartete jenseits der Türschwelle. Sein treuherziger Dackelblick ließ vermuten, dass man ihn auch die Treppe hätte hinunterwerfen dürfen, ohne, dass er beleidigt gewesen wäre.
»Ich kümmere mich um das Problem. Das Geschäftliche besprechen wir ein anderes Mal.«
Die Gräfin nickte stumm, senkte jedoch rasch ihre Augen, in denen es zornig aufblitzte. Für den Bruchteil einer Sekunde schien ihre eiserne Beherrschung ins Wanken geraten zu sein.
Bonnie starrte sie verwirrt an. Ganz offensichtlich hasste Gräfin Wilhelmina diesen Mann, den sie unmittelbar nach Quentins Unfall eigenzüngig herzitiert hatte, aus vollstem Herzen. Was ging hier vor?
»Wer war das?«, stieß sie mühsam hervor. Noch immer wühlte die Übelkeit in ihren Gedärmen. Sie trank einen Schluck und hielt die Luft an. Der Cognac setzte ihre Kehle in Flammen, aber nach dem dritten Nachschenken hatte wenigstens das unkontrollierte Zittern aufgehört. Der Alkohol verwischte bereits ihre Gedanken.
»Ein ... Freund, der sich um alles kümmern wird. Zerbrich dir nicht den Kopf. Man wird uns nicht weiter belästigen, und Quentin bekommt eine standesgemäße Beisetzung. Geh zu Bett, du kannst nichts weiter tun.« Gräfin Wilhelminas stechender Blick musterte sie, und einen Moment lang glaubte Bonnie, Mitleid aus diesem Blick zu lesen. Aber warum waren ihr die Worte ein Freund so zögerlich über die Lippen gekommen?
»Hör auf mich wie ein unmündiges Kind zu behandeln. Ich will wissen, wer der Mann eben war, und ich will wissen, wieso ihr alles so einfach über meinen Kopf hinweg entscheidet.« Das Zittern setzte erneut ein, aber diesmal war es das Zittern hilfloser Wut. Sie umschlang ihre Beine und presste das Kinn auf die Knie. »Quentin ... er war mein Mann, ich meine ...« Ihre Stimme versagte, und sie schloss die Augen.
»Ich tue lediglich, was getan werden musste«, hörte sie die Gräfin scharf erwidern. »Quentin war nicht ausschließlich nur dein Ehemann. In erster Linie war er Quentin Baron von Storkenburg, der Gutsherr auf Gut Lieberthal, und ich werde - auch in seinem Namen - nicht zulassen, dass man ihn verstümmelt zur letzten Ruhe bettet. Ich gehe doch mal davon aus, du lehnst derart unsinnige Obduktionen ebenfalls ab? Neumodischer Nonsens, nichts weiter. Tröstet es etwa eine trauernde Tochter, zu wissen, dass die Leber ihres Vaters zwei Pfund wog? Sie will sie schließlich nicht kaufen und braten. Papperlapapp, all das! Also: Anstatt grundlos aufzubegehren, solltest du dankbar sein, dass dir in diesen schweren Stunden geholfen wird. Und nimm um Himmels willen endlich die Beine vom Kanapee. Wie kann sich eine junge Dame derart herumfläzen. Setz dich vernünftig hin, und ich möchte die nächsten Tage keinesfalls sehen, dass du noch einmal in diesen grässlichen Jeans vor Gästen erscheinst. Zieh ein schwarzes Kleid an, so wie es sich gehört. Solltest du keines besitzen, leih dir etwas Passendes von Helene. Ihr dürftet eine ähnliche Größe haben. Morgen rufe ich bei Ringwald an und bitte ihn, mit seiner Kollektion von Trauerkleidern vorbeizuschauen. Leider Gottes wirst du in den nächsten Tagen als Quentins Witwe im Licht der Öffentlichkeit stehen, was ich keineswegs billige. Dein Benehmen und deine Haltung entbehren jeglicher Würde.« In all der Aufregung hatte Gräfin Wilhelmina Zeit gefunden, ihr graues Hauskleid gegen schwarzen Musselin mit einem hohen schwarzen Stehkragen aus Brüsseler Spitze einzutauschen. »Ich schäme mich für dich und ...«
Die Tür sprang auf, und Leonards bäuerische Gestalt füllte den Rahmen aus. Er fuhr sich verlegen über die braunen Stoppeln auf seinem Kopf. Wie üblich war ihm der Bund seiner ausgebeulten Cordhose unter den Bauch gerutscht, und wie üblich zerrte er wild am Gürtel. Stärker als sonst gaben seine Gesichtszüge der Schwerkraft nach. Alles hing nach unten. Augen- und Mundwinkel, Nase und Kinn. Selbst seine dunklen Augenbrauen bildeten über der Nasenwurzel die Spitze eines steil abfallenden Daches. Es war Bonnie unklar geblieben, ob seine Miene einen natürlichen Trübsinn widerspiegelte, oder ob sich der Trübsinn erst ausbildete, wenn er seinen Tränensäcken und Hängebacken allmorgendlich vor dem Spiegel gegenüberstand. Das einzig Anziehende an Leonard, zumindest in Bonnies Augen, waren seine Hände. Wohlgeformt, schmal und mit zartgliedrigen Fingern. Bei der Grobschlächtigkeit seines übrigen Körpers fielen sie sofort auf, doch Leonard pflegte sie, aus welchem Grund auch immer, meist tief in den Hosentaschen zu versenken, was dem Rutschen seiner Hosen außerordentlichen Vorschub leistete. »Alle weg! Die Leute von Noblesse haben ... ihn mitgenommen.« Er fuhr sich mit dem Handrücken über das stoppelige Kinn.
»Ausgezeichnet. Der Totenschein?«
»Es gab keine Probleme.«
Die Gräfin erhob sich mühsam. »Nun, Kinder, für heute ist alles getan. Leonard, hilf mir die Treppe hinauf und dann schließ bitte das Hoftor und leg die Kette vor. Ist Brutus versorgt?«
»Ich habe ihn auf die Weide gebracht und dann das Tor gleich verschlossen. Ich hoffe nur, dieses Schwein von Pferdeschlitzer ist heute Nacht nicht unterwegs, aber unten diesen Umständen konnte ich ihn schlecht im Stall ...«
»Willst du damit sagen, dieses ... dieses Biest ist immer noch hier?« Bonnie traute ihren Ohren kaum. Sie sprang mit einem Satz vom Kanapee und ging ein paar schnelle Schritte auf Leonard zu. »Schaff es auf der Stelle weg, Leonard!« Ihre Stimme steigerte sich zur Hysterie. »Ruf den Abdecker an oder schnapp dir, verdammt noch mal, das nächste Gewehr und knall es ab. Das Vieh hat Quentin getötet! Meinen Mann!« Tränen rannen ihr über die Wangen.
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