Ich sprühte Haarspray in die Flamme. Eine riesige Lohe schoss nach vorne und setzte Marc Rays Jacke in Brand. Der kreischte wie ein Irrer und wälzte sich auf dem Boden. Keuchend, meinen improvisierten Flammenwerfer vor mir, kam ich in die Höhe. Ich wackelte auf meinen hohen Absätzen, während ich mich rückwärts zur Tür zurückzog. Am Rande meiner Wahrnehmung stand Annette und kreischte. Marc Ray wälzte sich in Animals Richtung. Animal sprang rückwärts, machte dann aber einen riesigen Satz über den brennenden Fotografen und näherte sich mir geduckt, zum Sprung bereit. Ich hielt die Flammenlohe in seine Richtung und ging weiter rückwärts.
Dort, wo die Tür gewesen war, war nur nasse, elastische, wattige Wand. Hände kamen aus ihr heraus und zogen mich nach hinten, sie waren kalt und tot auf meiner Haut und schnürten mir die Luft ab. Ich drehte mich taumelnd um und ließ die Flamme über die Wand züngeln. Die Hände zogen sich zurück, doch das Feuer blieb an einigen herunterhängenden Kabeln hängen und fraß sich an der Isolierung entlang. Es stank. Geschmolzenes Plastik tropfte auf mich hinunter, während ich in dem Qualm vergeblich versuchte, die Tür zu finden.
Ein wildes Knurren hinter mir ließ mich herumfahren. Im zuckenden Feuerschein sah ich nur Animals schwarze, riesige Silhouette, wie er auf mich zu sprang. Ich ducke mich weg, und er stürmte an mir vorbei, einen Schweif schwarzer, kreischender Schatten hinter sich her ziehend.
Halluzination, dachte ich mühsam. Das Zeug, was sie mir gespritzt haben. Aber was war wirklich, und was nur eingebildet? Ein kühler Luftzug strich über mein Gesicht. Die Wölfin schnupperte. Dort ging es hinaus. Zwischen mir und dem Ausgang stand Animal, geduckt, zum Sprung bereit. Ich drückte den kleinen Hebel des Feuerzeugs und schoss ihm eine Flamme direkt in den Magen. Die Fetzen seiner Kleidung fingen Feuer. Stinkend und rauchend griff es auf seinen Pelz über. Brüllend wich Animal rückwärts auf den Gang, prallte gegen die Wand und versuchte, das Feuer am Beton zu löschen. Ich rannte an ihm vorbei und orientierte mich zum Ausgang.
Ich war furchtbar langsam. Meine Füße fühlten sich an, als hätte man mir Betonklötze darunter gebunden, die mich nun hinunter in den nassen, zähen Boden zogen. Wie durch Treibsand watete ich den Gang entlang. Irgendwann fiel ich hin und kroch auf allen Vieren weiter. Um mich war Rauch und flackerndes Licht, und dann war Animal direkt hinter mir. Ich warf mich nach vorne und erreichte die Tür zum Treppenhaus, doch auf den ersten Stufen hatte er mich eingeholt. Ich spürte, wie sich sein Gewicht auf meine Beine senkte und mich an Ort und Stelle festhielt. Er stank nach verschmortem Fleisch und Verwesung. Ich versuchte, mich die Treppe hinauf zu ziehen, aber meine Hände fanden keinen Halt auf den Steinstufen. Als seine Krallen meine Haut aufrissen, schrie ich. Der Druck wurde unerträglich. Plötzlich kam die Wölfin. Binnen Sekunden brach sie sich Bahn, ich verließ meinen menschlichen Körper und schnellte auf allen Vieren nach vorne. Die hinderlichen Plateauschuhe ließ ich samt meinem Gegner hinter mir. Wie ein Schatten raste ich die Treppe hinauf, immer dem Geruch nach Frischluft nach. Glasscherben knirschten unter meinen Pfoten, und an meinen Hinterläufen saß ein brennender Schmerz. Ich hörte Animal hinter mir heulen.
Den Gang erreichend, raste ich in eines der ehemaligen Krankenzimmer und rettete mich mit einem riesigen Sprung durch das zerbrochene Fenster ins Freie.
Die Stadt empfing mich mit grellem Licht und unerträglichem Lärm. Der Gestank von Menschen und Autos biss in meine Nase. Meine Sinne waren immer noch von der Spritze benebelt, aber sie schien der Wölfin nicht so zuzusetzen wie der Frau. Während die Wölfin rannte, versuchte ich, bei Bewusstsein zu bleiben. Wenn mir das nicht gelang, würde die Wölfin vor ein Auto laufen, das war mir klar.
Wohin jetzt? Ich wusste, dass ich in meine Wohnung nicht zurückkonnte. Die Gefahr, dass sie mich dort finden würden, war zu groß. Ich rannte an der Hauptstraße entlang. Meine Hinterläufe und Pfoten schmerzten, als stünden sie in Flammen. Nach einiger Zeit zwang ich mich, langsamer zu werden. Die Wölfin konnte vor den Schmerzen nicht davonrennen und würde sich nur unnötig verausgaben. Immer wieder sah ich mich um und witterte, doch Animal schien mir nicht zu folgen. Entweder hatte das Feuer ihn zu sehr in Mitleidenschaft gezogen, oder er traute sich nicht ans Licht. Werwölfe hatten untereinander strenge Regeln: Wer sich in verwandelter Form in der Öffentlichkeit zeigte, wurde mit einer silbernen Kugel erschossen. Ich hinkte den Gehsteig entlang. Manchmal wandte sich ein Passant mir zu und machte mitleidige Laute. Ich knurrte ihn an und hinkte weiter. Um eine Menschentraube an einer Bushaltestelle schlug ich einen Bogen, bemerkte aber, wie viele Leute zu mir hinüber sahen. Einer griff sogar zum Handy. Da wurde mir klar, dass ich immer noch in Gefahr schwebte: Wenn Animal mich nicht erwischte, würden es vielleicht die Frankfurter Tierschützer tun. Ich bog in eine Seitenstraße ab und versuchte, mich von meinem Instinkt leiten zu lassen. Ich wollte nichts als in eine vertraute Umgebung. Ich wusste nicht, wie viel Zeit vergangen war, bis ich zwischen all den verwirrenden Gerüchen der Stadt einen vertrauten auffing. Ich schnüffelte und sog ihn tief in meine Nase. Wie eine goldene Spur kreuzte er meinen Weg, führte in eine kleine Bäckerei und wieder hinaus, die Straße entlang. Es war ruhig hier, nur wenig Autos fuhren vorbei. Eine Mama mit Kinderwagen kam mir entgegen, und ich wich ihr aus. Sie sah ängstlich zu mir rüber. Ich schleppte mich weiter. Die goldene Spur zog mich in eine schmale Nebenstraße, die voller geparkter Autos war, an einer Hecke entlang, an Briefkästen und abgestellten Fahrrädern vorbei. Dann endete sie in einem Hauseingang.
Ich sah mich um und lauschte in alle Richtungen. Eine Amsel scharrte im Beet, aber Menschen waren keine in der Nähe.
Ich verwandelte mich zurück und drückte die Klingel. Ein wahnsinniger Schmerz saß in meinen Beinen. Ich sah an mir herunter und sah nichts als Blut. Dann wurde ich ohnmächtig.
15. Kapitel
In den Wäldern bei Bedburg, November 1589
«Aber töten dürfen wir sie nicht?»
Sibil war im ewigen Frühling angekommen. Tagsüber schien eine milde Sonne vom blauen Himmel, nachts fiel sanfter Regen und ließ die Wälder duften. Es gab zu essen, so viel sie wollte, und schon nach Kurzem stellte sie fest, dass sie nicht mehr ganz so mager, sondern etwas fülliger war. Ihre Brüste rundeten sich unter der einfachen Kutte, die Imagina ihr gegeben hatte, ihre Hüften wurden breiter und ein kleines Bäuchlein erschien, wo vorher nur eine eingefallene Kuhle zwischen ihren Beckenknochen gewesen war. Sie fühlte sich wach und lebendig und sog begierig das Wissen in sich auf, das Imagina ihr anbot. Oft begleitete sie die ältere Frau auf Spaziergängen durch den Wald.
„Wir müssen uns vor den Werwölfen in Acht nehmen“, sagte Imagina auf einem dieser Wege. „Sie haben keine Hemmungen, zu töten, wir aber schon. Das wissen sie. Manchmal betrachten sie uns als leichte Beute. Manchmal versuchen sie auch, uns auf ihre Seite zu zwingen, indem sie uns zum Töten verführen. Auf den ersten Blick sind sie stärker als wir. Was uns überlegen macht, ist unsere Selbstbeherrschung, unsere Einheit zwischen Tier und Mensch. Unser Durchhaltevermögen. Die Werwölfe sind ihren Trieben zu ausgeliefert. Das macht sie angreifbar.“
„Aber töten dürfen wir sie nicht?“
„Nein. Unter keinen Umständen. Wir müssen ihnen aus dem Weg gehen, für sie unerreichbar sein. Wie hier, innerhalb meines Zauberkreises.“
„Dann könnte ich für immer hier bei dir bleiben?“
Imagina lachte leise. „Nein. Irgendwann kommt der Tag, an dem du hinaus musst in die Welt. Hier ist nur Platz für wenige Wandler. Mein Zauber kann nicht beliebig viele beschützen.“
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