Beo und Enna fanden den ganzen Großen Markt nicht besonders attraktiv; vor allem störten sie die deutlichen Stilunterschiede zwischen dem spätgotischen Dom und der modernen Glasfassade der gegenüberliegenden Bank. Auch die einheitlich gestaltete Trapp-Zeile auf der einen und die ziemlich heterogene Häuserreihe auf der anderen Längsseite des Platzes passten ihrer Ansicht nach nicht recht zusammen. Beo und Enna konnten sich deshalb die Rekonstruktion der spätgotisch-flämischen Rathaus-Fassade als Blickfang sehr gut vorstellen. Und sie hatten mit einem kleinen Beitrag – im Rahmen ihrer Möglichkeiten - zur Realisierung des Projektes beigetragen. Damit befanden sie sich in guter Gesellschaft mit vielen Gleichgesinnten; unter ihnen auch einige Prominente wie Hanns Dieter Hüsch, Günther Jauch oder der rheinland-pfälzische Ministerpräsident Kurt Beck.
Bei der Grundsteinlegung war Beo auch dabei gewesen. Und seit dem Baubeginn hatte er sich regelmäßig über den Fortgang der Baumaßnahmen informiert. Ihn faszinierte auch der große Kran, mit dem die einzelnen vorbearbeiteten Steine millimetergenau von oben zwischen der Hausfassade und dem Baugerüst an ihren Bestimmungsort bugsiert wurden; per Funk-Fernsteuerung vom Gerüst aus. Bei einem seiner Besuche hatte er von dem Polier erfahren, dass der verwendete Sandstein aus der Eifel sehr empfindlich sei, und dass vor allem die Kanten und vorspringenden Teile leicht beschädigt werden konnten.
Heute war also das Tympanon an der Reihe, der erste große Schmuckstein in der allmählich wieder erstehenden Rathausfassade. Er sah aus wie ein flacher Giebel. In der Mitte war eine Schriftrolle eingearbeitet, auf der ‚RENOVAT ANNO 1740’ zu lesen war, die also auf eine Renovierung der ursprünglichen Fassade im Jahre 1740 hinwies.
Es dauerte einige Zeit, bis der schwere Stein genau an der richtigen Stelle saß. Der natürlich anwesende Dombaumeister stellte schließlich fest: „Sitzt, passt, wackelt und hat Luft!“, und ein rundes Dutzend Zuschauerinnen und Zuschauer applaudierte.
Beo machte später noch ein paar Fotos für seine Sammlung. Die übrigen Besucher waren inzwischen verschwunden. Auch die Arbeiter waren jetzt nicht mehr zu sehen. Dann setzte sich plötzlich der Kran in Bewegung. Der Haken, an dem kurz vorher noch der Schmuckstein gehangen hatte, wurde langsam nach oben gezogen. Danach war es wieder still.
Beo glaubte nicht an Geister oder Heinzelmännchen. Das konnte nur einer der Arbeiter sein, der sich irgendwo versteckte. Aber warum? Beo wusste es nicht. Er schoss noch ein letztes Foto von der menschenleeren Baustelle und machte sich dann wieder auf den Heimweg.
Frank Berger war wie jeden Morgen sehr zeitig auf dem Großen Markt in Wesel unterwegs. Er machte seine tägliche Runde von Haus zu Haus und sorgte dafür, dass die Bewohner des Dom-Viertels schon beim Frühstück einen Blick in ihre Tageszeitung werfen konnten.
An manchen Tagen war der Kollege vom Konkurrenzblatt schneller. Das ärgerte Berger, weil er dann den insgeheim für sich ausgerufenen Wettbewerb ‚Schnellster Weseler Zeitungsbote’ an diesem Tag verloren hatte. Das ließ sein Ehrgeiz nicht zu.
Berger lief gerade um den mannshohen und mit Planen verhängten Bauzaun herum, der die kunstvolle Arbeit der Steinmetze an der Historischen Rathausfassade vor neugierigen Blicken schützte. Die Handwerker waren um diese Zeit natürlich noch nicht da. Der Bauzaun schon. Deshalb musste Berger jeden Morgen im Karree mitten über den Großen Markt laufen, um vom Haus Nummer 11 zur Nummer 7 zu gelangen. Dabei warf er meistens einen kurzen Blick durch das Tor des Bauzauns, das nicht ganz zugehängt war und so den Blick auf die schon gesetzten Steinreihen freigab. Ab und zu schaute Berger auch hoch zum Ausleger des Baukrans, an dem manchmal eine Schubkarre oder andere Geräte hingen. Berger hatte solche Anhängsel auch schon auf anderen Baustellen gesehen und sich gefragt, wozu diese - bevorzugt an Wochenenden - dort aufgehängt wurden. Um ihren Diebstahl zu verhindern? Eine plausiblere Antwort war ihm bisher nicht eingefallen.
In der Regel war es noch stockdunkel, wenn Berger zwischen vier und fünf Uhr dreißig auf seiner morgendlichen Tour unterwegs war. Heute schien der Mond, der sich allerdings zeitweise hinter Wolken versteckte. Der Kranausleger hoch oben war trotzdem gut zu sehen. An dem Haken baumelte diesmal etwas Rechteckiges. Mehr war von unten nicht zu erkennen.
Berger hatte in der Zeitung gelesen, dass die aus einem Steinbruch in der Eifel stammenden Sandsteine bei einem Fachunternehmen in Weimar bearbeitet wurden, das langjährige Erfahrungen in Denkmalsanierung und -restaurierung hatte. ‚Steinmetz’, so lautete die Berufsbezeichnung der Mitarbeiter. Berger überlegte, wie wohl der korrekte Ausdruck für deren Tätigkeit hieß: ‚steinmetzeln’? Wenn das stimmte, dann würden die armen Steine gemetzelt und luftdicht verschnürt nach Wesel entführt, um hier Stück für Stück in dem Gesamtkunstwerk „Historische Rathausfassade“ zu verschwinden.
Berger musste grinsen. Die Fantasie war mal wieder mit ihm durchgegangen. Das passierte ihm öfter.
Im nächsten Augenblick schien der Mond ungehindert durch ein Wolkenloch, und die dunklen Konturen der Palette waren von unten deutlich erkennbar. Berger ging weiter. „Komisch“, murmelte er. Ihm war so, als hätte er für einen kurzen Moment an einer der Außenkanten der Palette etwas gesehen, was da nicht hingehörte; so etwas wie eine Hand, die ihm zuwinkte.
„Quatsch“, versuchte er sich selbst zu beruhigen. „Frank, du siehst Gespenster.“ Berger ertappte sich manchmal dabei, dass er auf seinem einsamen Weg mit sich selbst sprach und sich dabei mit seinem Vornamen anredete. Aber außer ihm und seinen Kollegen war um diese Zeit ja auch niemand unterwegs, mit dem er sich hätte unterhalten können. Er blickte noch einmal nach oben. Der Mond war wieder verschwunden und die Palette nur noch als viereckiges dunkles Etwas erkennbar.
„Alles paletti!“, sagte er und erschrak vor seiner eigenen, etwas rauen Stimme auf dem ansonsten totenstillen Platz. Dann wurde ihm sein unbeabsichtigtes Wortspiel bewusst: Palette und paletti! Er lachte laut und blieb einen Moment stehen, um die nächsten Zeitungen aus seinem kleinen Handkarren zu nehmen. In diesem Augenblick zog der Zeitungsbote von der Konkurrenz mit einem freundlichen „Moin, moin, Kollege! Heute so gut aufgelegt?“ an ihm vorbei.
Als der Polier Helge Wippert und sein Geselle Kain Kruse um kurz nach Sieben auf ihrer Baustelle am Großen Markt ankamen, bemerkten sie zu ihrem Erstaunen, dass am Kran eine Palette hing, die da nicht hingehörte.
„Hast du die Palette da aufgehängt?“, fragte Wippert mit Blick nach oben. Die Antwort von Kruse, der am Vorabend als Letzter die Baustelle verlassen hatte, kam postwendend: „Nein!“
„Komisch“, meinte der Polier. „Die kommt doch nicht von selbst dahin.“ Dann blickte er noch einmal nach oben und traute seinen Augen nicht. Über eine der Längskanten der Palette ragte – von unten deutlich erkennbar – eine Hand.
„Siehst du auch, was ich sehe?“, fragte er.
„Ja, die Palette“, erwiderte der Geselle.
„Nein, die meine ich nicht. Sieh noch mal genau hin.“
„Ach, du meinst die Hand“, kam die lakonische Antwort des Gesellen.
„Ja, eine Hand. Findest du das normal?“
„Jedenfalls nicht aufregend. Vor ein paar Jahren hat schon mal jemand versucht, mich mit so einer Gummihand zu erschrecken. Die hing aus seinem Kofferraum und sah auch verblüffend echt aus.“
„Und jetzt willst du mich damit reinlegen?“
„Nein, will ich nicht. Ich war das nicht.“
„Okay. Du warst es nicht. Ich war es auch nicht. Dann wollen wir uns das Ding mal aus der Nähe ansehen. Hol mal die Fernsteuerung.“
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