„Mutter, was…?“ fragte Diametus, der seine Mutter bisher nicht so hat Alkohol trinken sehen.
„Alles gut, mein Sohn“, sagte Tutela, nachdem sie die Flasche geleert hatte, „ich brauche nur etwas Mut, um euch alles zu erzählen, denn wenn ich mir das alles vorstelle, dann wird mir schlecht.“
Diametus rannte zu seiner Mutter, um sie zu umarmen, aber sie stieß ihn zurück.
„Ich bin eine Divina“, gab Tutela preis und suchte nach einer weiteren Flasche, die sie leeren könnte.
„Was soll das sein?“ fragte Diametus, der sich nichts darunter vorstellen konnte.
„Du bist eine Seherin“, erkannte Belleza, „ich habe davon gehört. Die Dorfbewohner haben sie diese Geschichten erzählt- Aber das sind doch alte Märchen und die gibt es nicht mehr.“
„So tief haben wir es begraben“, sprach Tutela, „und so lange Jahre liegt es zurück. Wir haben es versucht zu verdrängen, aber es holt uns immer wieder ein. Und wenn ich ehrlich sein soll, dann wusste ich es. Und ich weiß, was passieren wird- es ist unausweichlich!“
Jetzt lief auch Belleza zu ihrer Mutter und ihrem Bruder, der noch immer wie angewurzelt dort stand, nachdem ihn sein Mutter abgewiesen hatte. Tetula hatte indes die zweite Flasche geöffnet und begann sie zu trinken.
„Mutter, Mutter, jetzt ist genug“, schrie Belleza und riss ihrer Mutter den Met aus der Hand.
„Du hast mir nichts zu sagen“, fauchte die Mutter und entriss ihrer Tochter der soeben gewonnene Met wieder.
„Nun gut“, sagte Belleza, „du willst unsere Hilfe nicht, aber es bringt auch nichts, dich hier im Selbstmitleid zu ersaufen. Das wird auch nichts ungeschehen machen.“
Dann nahm sie sich Diametus und machte sich zu einer anderen Ecke des Schutzraumes auf. Sie setzten sich.
„Was ist mit Mutter?“ fragte Diametus verwirrt, denn er kannte seine Mutter nicht wieder.
„Ich weiß es nicht, aber es wird schon werden“, versuchte Belleza ihren Bruder zu beruhigen.
Es dauerte eine Weile, ehe Tutela zu ihren Kindern kam. Sie hatte insgesamt sechs Flaschen geleert, fünf von dem Met und eine Weinflasche.
„Es tut mir Leid“, sagte sie angetrunken, „aber ich weiß nicht weiter, deshalb bin ich verzweifelt und mache so einen Mist.“
„Ich könnte dich jetzt anbrüllen, aber ich mache es nicht“, entgegnete die Tochter, „dir und Diametus zuliebe, aber erkläre uns doch bitte, was hier los ist. Es kann doch nicht alles sein wegen eines Familienstreits zwischen Onkel Miles und Vater?“
Tutela setzte sich zu ihren Kindern und umarmte sie. Diametus drückte fest zu, aber er fand, dass seine Mutter ganz schön nach Alkohol stank.
„Ich habe euch ja schon gesagt, dass ich eine Divina- eine Seherin- bin“, fing Tutela an zu erzählen, „ich habe all diese Ereignisse gesehen und euren Vater gewarnt, aber wollte unbedingt das Fest der Ahnen feiern, da es Tradition ist.“
„Wovor wolltest du ihn warnen?“ wollte Belleza wissen.
„Vor dem Obscura“, antwortete Tutela und schaute sich um, „er ist der Herr der Unterwelt.“
„Der Herr der Unterwelt, du meinst den Teufel?“ fragte Belleza entgeistert, „aber das ist doch Quatsch.“
„Nein, er trachtet nach unserem Leben“, gab Tutela weiter an.
„Aber warum interessiert es einen Teufel, einem Herren der Unterwelt, eine Familie auszulöschen?“ fragte Belleza und hatte das Gefühl, ihre Mutter redete nur Blödsinn, da sie eine Menge getrunken hatte.
„Es hat etwas damit zu tun, dass wir Latros sind“, antwortete Tutela, „ein uralter Clan von Jägern.“
„Aber Jäger sind doch keine Gefahr für einen so mächtiges Wesen“, sprach Belleza mit ängstlicher Stimme, „was jagen wir denn genau?“
Tutela schaute für einen Moment weg. Sie dachte nach.
„Kind, das hätte ich euch früher sagen müssen“, machte sich die Mutter Vorwürfe, „aber alles lief gut und wir wollte euch nicht belasten.“
„Das beantwortet nicht meine Frage“, stellte Belleza fest.
„Als vor vielen Jahren der Herr der Unterwelt herrschte, gab es nicht viele, die ihren Widerstand leisteten. Zu den wenigen gehörte dein Großvater Fides. Er war ein gewöhnlicher Jäger, der Tiere jagte. Eines Tages aber griffen Vampire die Familie an und töteten Großmutter und alle Kinder, außer deinen Vater und Onkel Miles. Dies veränderte euren Großvater und er spürte den Zorn in sich. Er verwandelte sich und tötete alle Vampire und spießte ihre Köpfe auf langen Pfählen.“
„Das ist ja grausam“, kommentierte Belleza und hielt ihrem Bruder die Ohren zu, „meinst du, diese Geschichte ist das richtige für den Kleinen?“
„Er soll es erfahren, bevor wir keine Zeit mehr dazu haben“, antwortete Tutela, „Großvater wurde zu einem Latro, einem Jäger, der alles jagte, was nicht Mensch oder Tier war.“
„Auch die Guten?“ wollte Diametus wissen.
„Du meinst die Lumen? Di ebenfalls, denn sie waren nicht dort, um unsere Familie zu schützen und sie waren nicht dort, als der Krieg mit den Menschen begann“, erklärte Tutela, „nach Fides haben die Lumen einen eigenen Krieg geführt.“
„Aber weißt du, warum Großvater zu dem Latro geworden ist?“ fragte Diametus, der nun sehr interessiert zu sein schien.
„Genau nicht“, antwortete seine Mutter, „aber wir denken, dass es sein Hass war, der unendlich auf seinem Herzen lastete, nachdem seine geliebte Frau, unsere Großmutter, getötet wurde. Zudem musste er sie ebenso töten, als sie ihn angriff, nachdem sie sich zu einem Vampir verwandelte.“
„Wird der Obscura heute zurückkommen?“ wollte Belleza wissen und man sah ihr die Panik in ihren Augen an.
„Ja, wird er“, bestätigte Tutela, „Großvater konnte ihn nicht töten, da die Lumen ihn in der Hölle verbannt hatten. Allerdings wird nicht er kommen, sondern ein Vorbote, sein Name ist Tenebras, aber er wird sich nicht als seiner selbst zeigen. Er ist ein Obscura und ein Wesen des Bösen.“
„Weißt du, wer es ist?“ fragte Belleza.
„Nein, leider nicht, aber ich weiß, dass es heute Abend geschehen wird“, gab Tutela an.
„Haben Onkel Miles und Vater deshalb Streit?“ wollte Diametus wissen.
„Onkel Miles will, dass wir als Latro weiterleben und uns zeigen, Vater dagegen will die Vergangenheit vergessen, da er Großvater als Latro fürchtete. Es hatte nicht nur Gutes, wenn der eigene Vater den Schergen der Unterwelt hinterherjagte und nicht für einen da war. Für Miles war Großvater ein Held.“
„Wurde Großvater ermordet?“ vermutete Belleza.
„Ja und zwar von einem Lumen namens Aniluma“, antwortete Tutela, „ein Latro ist in jedem Fall für beide Seiten gefährlich.“
„Aber warum wollen sie unseren Tod?“ fragte Diametus neugierig.
„Weil ihr die Erben seid, Vater und Miles haben die Kraft eures Großvaters erhalten. Allerdings würde ich sagen, dass Pollensis sie nie genutzt hatte, während Miles fleißig trainierte. Die Kräfte von eurem Vater gehen eines Tages zu euch über.“
Die drei hörten noch immer das Poltern oberhalb von ihnen, was auf die Prügelei zwischen den Familienangehörigen zurückzuführen war. Pollensis war sauer und enttäuscht. Immer schon hielt sein Bruder ihm vor, dass er die Familie nicht angemessen führe. In Wahrheit wollte doch Miles über den Clan herrschen und ihn dorthin führen, wo er hergekommen war.
„Du bist eine Schande“, beschimpfte Miles seinen Bruder, „und wirst uns ins Verderben bringen!“
„Du bist gerade dabei, es für mich zu übernehmen“, entgegnete Pollensis, „und dabei war dies ein Familienfest.“
Miles gab Pollensis einen kräftigen Schlag ins Gesicht, sodass dieser nach hinten umfiel. Mittlerweile war die Einrichtung derartig demoliert, sodass hier nichts mehr gefeiert werden konnte. Die Gefolgschaft von Miles hatte Pollensis Leute in die Schranken gewiesen.
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