Laut Vita (Quelle 1) zieht Papst Leo am 25. April 799, begleitet von vielen Gläubigen, in Prozession zur Kirche des hl. Laurentius. Als er den Lateran verlässt, kommt ihm der Primicerius (Leiter der päpstlichen Verwaltung) Paschalis entgegen und entschuldigt sich dafür, dass er kein Messgewand trage, weil er sich krank fühle. Auch Campulus, der Schatzmeister, gesellt sich dazu und sagt mit falschem Herzen Schmeichelhaftes. Beim Kloster der Heiligen Stefan und Silvester überfallen Bewaffnete die Prozession völlig unerwartet. In Panik flieht das unbewaffnete und für den Gottesdienst bereite Volk, das den Papst begleitet. Dann erst werfen die Angreifer Leo zu Boden, reißen ihm die Kleider herunter und versuchen, ihn zu blenden und ihm die Zunge herauszuschneiden. Im Glauben, sie hätten ihr Werk vollbracht, lassen sie ihn bei den Urhebern des Anschlags, Paschalis und Campulus, auf der Straße liegen.
Die bringen Leo in das Kloster, reißen ihm vor dem Altar die Augen heraus, schneiden die Zunge ab und verletzen ihn mit Hieben und Prügeln. In seinem Blut lassen sie ihn halb tot liegen und stellen ihn unter Bewachung. Später bringen sie und andere Übeltäter ihn aus Angst, er könne von Christenmenschen entführt werden, ins Kloster des hl. Erasmus und halten ihn dort unter strenger Bewachung.
Der allmächtige Gott gibt Leo auf Fürbitten des Apostelfürsten Petrus das Augenlicht und die Zunge zum Sprechen wieder. Dann wirkt er ein weiteres Wunder: Er ermöglicht es dem Kammerherrn Albinus, zusammen mit anderen Gottesfürchtigen Leo heimlich aus dem Gefängnis zu entführen und in die Basilika des hl. Petrus zu bringen.
Alle, die über diese Wunder Gottes hören oder sie mit eigenen Augen sehen, jubeln und preisen Gott, der den unschuldigen und gerechten Pontifex den Händen seiner Feinde entrissen hat. Und wirklich hat Gott ihm das Augenlicht und die Zunge wiedergegeben und alle Glieder geheilt. (Quelle 1: Et vere a tenebre eum Dominus eripiens lumen reddidit et linguam ad loquendum restituit, et totis eius solidavit membris …)
Und in die Kirche des hl. Petrus kommt eiligst Winigis, der Herzog von Spoleto, mit seinem Heer. Als der den höchsten Pontifex sehend und sprechend erblickt, nimmt er ihn ehrwürdig auf. Er bringt ihn nach Spoleto und preist Gott, der ein solches Wunder vollbracht hat. Von dort bricht Leo zu König Karl auf. Dieser schickt ihm seinen Kapellan, Erzbischof Hildebald von Köln, den Grafen Aschericus und schließlich seinen eigenen Sohn, König Pippin, mit einigen Grafen entgegen, die ihn zum Treffen nach Paderborn geleiteten. Karl empfängt dort den Stellvertreter des hl. Petrus höchst ehrenvoll mit Hymnen und geistlichen Gesängen. Sie umarmen und küssen sich unter Tränen. Karl ist aufs Höchste bewegt wegen der Wunder, die Gott auf Bitten des hl. Petrus am Papst bewirkt hat. Die vorgenannten ungerechten Männer gelten nichts mehr bei ihm. Die Angriffe dieser nichtswürdigen Prälaten und Söhnen des Teufels, die einst in großem Ansehen beim König gestanden hatten, hat Gott selbst gegen sie gerichtet und die falschen Beschuldigungen gegen den Papst können sie ganz und gar nicht beweisen. Von Bränden, die die Papstgegner in den Besitzungen des hl. Petrus gelegt haben, ist die Rede.
Als der Papst beim König weilt, kommen von allen Seiten Erzbischöfe, Bischöfe und andere Kleriker herbei. Sie beraten zusammen mit dem König und allen vornehmen Franken und lassen Leo in allen Ehren nach Rom auf seinen Päpstlichen Stuhl geleiten. Dort herrscht große Freude über seine Rückkehr am 29. November. (Regesta Imperii 350e)
Fassen wir zusammen:
Der Papst gerät in einen Hinterhalt. Er wird geblendet, seiner Zunge beraubt und verprügelt.
Gott heilt nicht nur Augen und Zunge, sondern alle Glieder. Das heißt: Leo präsentiert sich in St. Peter unverletzt.
Dort trifft Leo mit Herzog Winigis von Spoleto zusammen, der ein Heer mit sich führt und den Papst nach Spoleto begleitet.
In Paderborn wird Leo mit allen Ehren aufgenommen, die Anklagen gegen ihn fallen in sich zusammen, er kehrt auf seinen Amtssitz zurück.
Die Gegner des Papstes hatten dem König ihre Anschuldigungen vorgetragen, konnten sie aber nicht beweisen.
Vermutlich kurz nach der Ankunft der Nachrichten im Frankenreich (Schieffer, Attentat, S. 77) schreibt der Verfasser der in der Umgebung Karls des Großen entstandenen Reichsannalen, die Römer hätten Leo gefangengenommen, geblendet und ihm die Zunge herausgeschnitten. In der Nacht sei er seinen Bewachern über die Mauer entkommen und habe sich zu Abt Wirund und Winigis, den Gesandten des Königs, in die Basilika des hl. Petrus begeben. Dann wird er nach Spoleto gebracht. (Quelle 2)
Die nach Jahren geordneten Reichsannalen sind das umfangreichste, zeitnah am Hofe Karls des Großen verfasste, fränkische Geschichtswerk. Sie reichen von 741 bis 829. Ab etwa 790 wurden die Einträge jährlich oder zumindest zeitnah vorgenommen. Der unbekannte Verfasser liefert allerdings keine zuverlässige Zusammenstellung der Fakten, sondern betrachtet das Geschehen vom Standpunkt des Herrschers bzw. dessen Umgebung aus. Nach McKitterick wurden diese Annalen im ganzen Reich verteilt, um die karolingische Sicht der Vergangenheit durchzusetzen. (Constructing the Past, S. 126) Deshalb sind örtliche, meist in Klöstern entstandene Annalen, vom Geist der Reichsannalen durchzogen, bieten aber hin und wieder selbstständige, von diesen abweichende Darstellungen. (Siehe ausführlicher Hoffmann, Untersuchungen, S. 38-41; Hartmann, Karl, S. 16 f.; McKitterick, Karl, S. 42-53; Becher, Quellen, S. 106-109; Fried, Karl, S. 22 geht davon aus, Karl habe den Text höchstpersönlich gebilligt.)
Theodulf von Orleans, ein enger Vertrauter des Königs, dichtete vermutlich zwischen Herbst 799 und Frühjahr 800 (Datierung nach Schieffer, Attentat, S. 81) Folgendes:
„ Ihn hat sein eigenes Volk aus der Stadt und vom Thron verstoßen, ihn mehr dem Tod als dem Leben geweiht. Ihn hat dein gütiges Erbarmen aufgenommen, getröstet, gepflegt und gestärkt. Ihn hat eine entfesselte Menge der Augen, der Zunge, der Gewänder und aller heiligen Insignien beraubt. Zurück gab ihm Petrus, was der schwarze Judas hinwegnahm, weil der eine Bekenner, der andere Verräter Gottes ist. Die aufrührerische Schar ist Judas insofern gefolgt, als jener den Tod des Herrn, diese den des Bischofs beabsichtigte. Dabei leugnet sie, dass ihm Augen und Zunge zurückgegeben wurden, leugnet, dass sie ihm genommen wurden, und beteuert, den Verlust nur gewollt zu haben. Sind sie ihm doch zurückgegeben, war es ein Wunder, ein Wunder auch, wenn sie es nicht vermochten, sie ihm zu nehmen: ich bin im Zweifel, ob ich mehr über das eine oder über das andere staunen soll. (bis hierher Übersetzung Schieffer, Attentat, S. 81, das Folgende eigene Übesetzung) Nun hat ihn Petrus, obwohl er ihn in Rom vor Feinden und den schrecklichen Nachstellungen hätte retten können, dir [Karl dem Großen] zur Rettung überlassen und wollte, dass du an seiner statt handelst. Von sich aus gab er ihm die verlorenen Körperteile und durch Dich die Würde seines Amtes wieder.“ (Quelle 6)
In seinem bald nach Karls des Großen Kaiserkrönung, vielleicht aber auch schon 799 verfassten Gedicht Karolus magnus et Leo Papa berichtet der anonyme Autor folgendes:
„ Da hat der König eine traurige Vison, ein fluchwürdiges Gesicht im Traum: Der römische Papst, Leo, dünkt ihn, stehe vor ihm und vergieße bittere Tränen, blutbesudelt das Auge, blutverschmiert das Gesicht, die Zunge verstümmelt, der Leib von furchtbaren Wunden bedeckt. Eiskalt überläuft es den Herrscher, und Sorge bedrückt ihn. Drei schnelle Boten lässt er aufbrechen nach der Stadt Rom, zu erkunden, ob der mächtige Hirte der Herde sich wohl befinde, und er fragt sich nachdenklich, was der schreckliche Traum wohl bedeute, und macht sich zu treuer Hilfe bereit.
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