Wadim und Anna drückten gegenseitig ihre Betroffenheit aus und hatten Mitleid mit der schwedischen Bevölkerung. Sie waren sich sicher, dass die dort erhöhten Werte auch von einem Atomunfall in Schweden ausgelöst worden waren.
Andererseits waren sie aber erleichtert, dass dieses
Atomunglück nicht in ihrer Umgebung passiert war. Und so kam ihre Unterhaltung schnell wieder zum Tagesgeschehen zurück.
Am kommenden Tag in der Frühe saßen beide Familien jeweils gemeinsam beim Frühstück. Neugierigerweise stellte Wadim wieder einen westlichen Sender im Radio ein, denn er wollte wissen, wie sich die Nachrichtenlage bzgl. des Atomunfalls entwickelte.
Und tatsächlich gab es Neuigkeiten diesbezüglich: Nämlich, dass die schwedischen Behörden mittlerweile ausschlossen, dass es in Schweden zu einem Atomunfalls gekommen war. Das Unglück musste sich also anderswo zugetragen haben und nur die radioaktive Wolke hatte sich in Richtung Schweden fortbewegt. Es wurden nun auch Wetterexperten hinzugezogen, die die Luftströmungen in den vergangenen Tagen analysieren sollten und somit zur Quelle des Unglücks vordringen sollten.
Als Anna am Mittag nach Hause kam, stellte sie sofort wieder das Radio an. Der englische Sender berichtete nun fast durchgehend von dem Atomunglück. Die Hinweise deuteten wohl darauf hin, dass es wohl wirklich im AKW Tschernobyl zu einem Unglück gekommen war. Die Auswertungen der ersten Satellitenaufnahmen zeigten, dass in der Nacht zu Samstag es wohl eine größere Explosion in Block 4 des AKWs gegeben hatte.
Anna rannte sofort zu Darja, die ebenfalls schon Bescheid wusste. Die Ratschläge von Experten zu Radioaktivität gingen dahin, dass sich die betroffene Bevölkerung mit Jobtabletten eindecken sollte. Diese Jodtabletten hatten die Wirkung, dass die Schilddrüse, die Jod benötigte, mit diesem natürlichen Jod in den Tabletten gesättigt wurde und so das radioaktive Jod, welches bei einem Reaktorunfall freigesetzt wurde, nicht mehr aufnahm.
Vor der Apotheke hatte sich schon eine lange Schlange gebildet und alle in der Schlange hatten nur ein Anliegen: nämlich Jodtabletten zu kaufen.
Es dauerte eine halbe Stunde, bis Anna und Darja am Verkaufsschalter waren. Und tatsächlich bekamen sie eine der letzten Packungen der Jodtabletten. Der Apotheker versicherte, er hätte schon weitere Jodtabletten nachgeordert, aber da diese derzeit auch in anderen Landesteilen nahezu gehortet wurden, konnte er noch nicht sagen, ob und wenn ja, wann er Nachschub bekommen sollte.
Aber fürs erste sollten diese Packungen für zwei Wochen für beide Familien reichen.
Anna hatte gehört, dass es bei den Jobtabletten darauf ankam, diese sehr früh zu nehmen, wenn noch keine Sättigung der Schilddrüse mit dem radioaktivem Job stattgefunden hat. Deshalb gab sie Marusha die empfohlene Tagesdosis noch im Kindergarten, als sie sie dort abholte. Selbiges tat auch Darja mit ihren Kindern.
Als die Männer nach Hause kamen, gab es nur noch ein Thema: Was war in Tschernobyl passiert? Die amtlichen sowjetischen Medien hatten sich bislang noch gar nicht geäußert.
Wadim beschloss, Freunde in Prybjat, der an das AKW angrenzenden Stadt anzurufen. Einiger dieser Freunde arbeiteten sogar im Kraftwerk. Die sollten doch Bescheid wissen, so war Wadims Gedanke. Aber keiner dieser Freunde ging ans Telefon. Eigentlich hätten doch zumindest die Ehefrauen oder Kinder zu Hause sein sollen. Aber absolute Fehlanzeige. Wadim wurde skeptisch und seine Beunruhigung nahm extrem zu.
Das einzige, was ihm für die Lage seiner Familie Hoffnung machte, war: Wenn die radioaktive Wolke vom AKW Tschernobyl, welches 50 km nördlich von Kiew lag, nach Schweden gezogen war, so hieß das, dass sie aller Voraussicht nach nicht an Kiew vorbeigezogen war.
Das war aber ein schwacher Trost, denn niemand kannte sich wirklich mit Atomunglücken aus, noch weniger, wie Strahlung freigesetzt wurde und sich diese ausbreitete.
Dann endlich, am Dienstagabend, meldeten die russischen Behörden, dass es im AKW Tschernobyl zu einem Störfall, wie sie es nannten, gekommen war.
In der Nacht zu Samstag sollte das neue Notfallsystem der Turbogeneratoren von Block 4 des Reaktors getestet werden. Für den Test musste die Leistung heruntergefahren werden. Dabei fiel der Reaktor in einen Leistungsbereich, in dem er instabil wurde. Zu diesem Zeitpunkt hätte der Reaktor aus Sicherheitsgründen abgeschaltet werden müssen. Da dies nicht geschah, kam es im Zuge dieser Aktion zu unvor-hergesehenen Ereignissen, die schlussendlich zu einer Explosion in Reaktor 4 führten. (1)
Die Behörden versicherten allerdings, dass die Situation im Kraftwerk völlig unter Kontrolle sei. Nur, um die nahegelegene Bevölkerung für den unwahrscheinlichen Fall, wie der Radiosprecher betonte, einer bedrohlichen Strahlenbelastung in der Umgebung des Kraftwerks, zu schützen, wurde die Bevölkerung vorsichtshalber evakuiert.
Wie sich später herausstellen sollte, wurde die Evakuierung unter absolutem Zeitdruck durchgeführt. Jede Familie hatte nur zwei Stunden, um alle wichtigen Sachen zu packen, bis dann die Busse sie abholten. Und, was zu diesem Zeitpunkt ebenfalls noch keiner wusste: Sie würden Ihre Wohnungen und Prybjat niemals wiedersehen.
Aber nun war es raus: Es war etwas passiert. Wadim wusste allerdings auch sehr genau, was er von Formulierungen wie „völlig unter Kontrolle“ zu halten hatte. Diese Formulierungen dienten einzig und allein zur Beruhigung der Bevölkerung und nicht wie gewünscht zu deren Aufklärung.
Wadim wandte sich zu Anna und fragte sie: „Glaubst Du denen?“.
Anna antworte, wie es Wadim erwartet hatte: „Kein Wort! Komm, stell nochmal den englischen Sender ein, vielleicht wissen die mittlerweile mehr.“
Wadim drehte am Senderknopf, bis die gewohnte englische Stimme erklang.
Wadim und Anna hatten beide Englisch in der Schule gelernt und in diesem Moment zahlte sich das nun aus.
Leider wussten die Briten und die westlichen Behörden zu dem Zeitpunkt auch nicht mehr um die Gründe und Auswirkungen des Atomunfalls. Sie erfuhren nur, dass dieser Unfall mittlerweile als Super-GAU eingestuft wurde, also als Größter Anzunehmender Unfall.
Wadim ließ sich die Nachricht von der Evakuierung Prybjats nochmal durch den Kopf gehen und schüttelte auf einmal unvermittelt den Kopf.
„Was ist los?“, fragte Anna.
„Ich habe mir gerade nochmal vorgestellt, was es heißt, eine Stadt wie Prybjat zu evakuieren. Dort wohnen knapp 50.000 Menschen. Wenn die alle auf einmal evakuiert werden, benötigt man 1.000 Busse. Das ist Wahnsinn!“
Anna begriff nun auch, dass die Lage dort wohl mehr als ernst war. Und Prybjat war nur etwa 50 km entfernt.
Wadim und Anna waren auch gespannt, wie die russischen Behörden mit den bevorstehenden Feierlichkeiten zum 1. Mai umgehen würden, welcher in sozialistischen Ländern ein hoher Feiertag war mit öffentlichen Paraden, an denen auch fröhliche Kindergruppen teilnahmen. Würden sie den Mut haben und alle Paraden im betroffenen Gebiet absagen? Oder würden sie, was Wadim und Anna für wahrscheinlicher hielten, alle schlimmen Nachrichten um Tschernobyl bis dahin unterdrücken und so tun, als wäre nichts passiert.
Wadim und Anna hatten gehofft, dass mit der unter Präsident Gorbatschow gepriesenen Formel von „Glasnost“, was für Offenheit stand, sich auch etwas ändern würde hinsichtlich negativer Meldungen wie in diesem Falle. Aber offensichtlich war dies wohl nur ein Lippenbekenntnis. Wadim wusste, dass die Menschen unter einem anderen Präsidenten dennoch die gleichen waren und sich ihr Denken wohl so schnell auch nicht ändern würde. Insbesondere Schuldeingeständnisse waren im Sozialismus nach wie vor ein sogenanntes „No-Go“. Es war deshalb auch zu bezweifeln, dass bei Gorbatschow die ganze Wahrheit über den AKW-Unfall angekommen war.
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