Michael Dohr - Hüttenkoller

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Auf einer Hütte, hoch in den Schweizer Alpen, beginnt ein junger Mann einen Roman zu schreiben. Er glaubt, das sei schon immer sein Traum gewesen.
Er erzählt von zwei verfeindeten Bauernfamilien, die irgendwann vergessen, einen Schlussstrich zu ziehen, von zwei mehrfach ausgezeichneten Schweißerinnen aus dem Ruhrpott, die an einem Montagmorgen in ihr Boot steigen und einfach davonsegeln oder von einem Bauarbeiter, der den Lachsen das Sterben ausreden möchte.
Mit der Qualität seiner Erzählungen ist der Mann nicht zufrieden. Die Protagonisten sind oberflächlich, die Handlung meist brüchig. Trotzdem schreibt er weiter, bis ihn schlussendlich eine ernüchternde Realität einholt: Er ist weder ein Schriftsteller, noch ist er in den Bergen.
Hüttenkoller erzählt in satirischer Sprache die Geschichte eines jungen Mannes, der nur eine Handbewegung davon entfernt ist eine Katastrophe auszulösen. Es ist die Geschichte eines Menschen, der vor der Welt davonläuft, um sie zu retten.

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Michael Dohr

Hüttenkoller

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Inhaltsverzeichnis Titel Michael Dohr Hüttenkoller Dieses ebook wurde erstellt - фото 1

Inhaltsverzeichnis

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Vergeltung

Playa de fufu

Südtiroler Schinkenspeck

Am Nordpol ist es immer kalt

Tee Gorbatschow

Lachse

Uhu Chuck

Der Wurm

El fuego del diablo

Permafrost

Heidi hasst mich

Pampa

Modell Brustständer

Phantomschmerzen

Von Fischen, die nicht sterben wollten

Das Ende eines Traumes

Impressum neobooks

Vergeltung

Kapitel 1

Saukalt ist es und es kracht. Schon wieder Silvester? Habe ich nicht gerade erst meinen Onkel beim Böllerschießen verloren? Dass das jetzt ein Jahr her sein soll, kann ich kaum glauben. Die Jahre scheinen wie im Flug an mir vorüberzuziehen. Ohne ein Andenken zu hinterlassen, ohne Wunden zu schlagen, ohne mich den Jahreszeiten und ihrer unheilsamen Beständigkeit auszusetzen. Die schlimmste Jahreszeit ist der Herbst. Der Frühling ist wunderbar. Er lässt einen hoffen, dass es vielleicht irgendwann wieder Sommer sein wird. Aber der Herbst, der Herbst ist eine Warnung. Eine Warnung an das Leben, sich zu verkriechen und Schutz zu suchen, bevor die Kälte kommt. Der Winter kann lang dauern und manchmal – so habe ich gehört – könne er sogar für immer bleiben und tief in die Welt eindringen. Auch für mich wird der Winter kommen. Vielleicht werde ich ihn sogar selbst herbeiführen. Noch ist es nicht soweit. Noch ziehen die Gezeiten an mir vorüber, ohne mich zu berühren. Doch sie werden zurückkehren und mich fortspülen, irgendwann. Irgendwann, da werde ich womöglich wieder an der Universität sitzen. Ein neues Sommersemester. Wäre nicht das erste, das ich überstanden hätte. Ein neues Sommersemester hat hämorridalen Charakter. Es kommt schneller als man glaubt, ist schmerzhaft und doch lehrreich. Wieder eine leere Metapher. Was bitte soll an Hämorriden lehrreich sein? Ich kann einfach nichts Sinnvolles von mir geben. Ob ich überhaupt jemals an einer Universität studiert habe, ist zudem mehr als fraglich.

Ich fühle mich komisch. Alles ist ziemlich verdächtig, seit es plötzlich dunkel wurde. Mit einem Mal Nacht, mitten am helllichten Tag. Es ging schnell. Ein Knall und alles war finster. Kann mich gar nicht mehr erinnern, wann es war. Heute, gestern, vor einer Woche, einem Monat, einem Jahr. Alles unbedeutend. Raum und Zeit sind für einen kurzen Augenblick aufgehoben. Sie existieren zwar, halten meine feste Substanz, mein Fleisch, mein Blut, meine knöcherne Struktur in fester Umklammerung, aber mein Geist ist frei. Fast wie bei den wundersamen Esoterikern. Ich hörte diesbezüglich Geschichten von Unglücklichen, die schreckliche Dinge taten bei abnehmendem Mond, um der Fettsucht Herr zu werden. Andere wiederum schwören auf eine Essenz der letzten Sonnenwinde. Die Verdauung und noch vieles mehr solle sich damit anregen lassen, meinen selbsternannte Experten. Schwer fällt es, an eine derartige Idiotie zu glauben und dennoch: bewundernswert, dieser Glaube. An irgendeinem Grashalm muss man sich schließlich festklammern. Ist der Glaube an alles Vernünftige irgendwo am Lebensweg abhanden gekommen, bleibt eben nur noch der Wahnsinn übrig und der kann unglaublich befriedigend sein. Der Wahnsinn stellt uns nämlich über alles und jeden. Er befreit uns von der Last der Vernunft. Er gibt uns Halt, wenn die Welt zusammenbricht. Er macht uns zu etwas Besonderem und etwas Besonderes, wer wäre das nicht gerne? Wahnsinnig müsste man sein.

Aber beschweren möchte ich mich keineswegs. Auch ich fühle mich befreit. Bin vollkommen losgelöst. Schwebe schwerelos im Äther. Die Vergangenheit liegt Großteils verborgen hinter einer dichten Nebelwand, die Gegenwart kommt mir seltsam vor und die Zukunft scheint mir ungewisser denn je. Wie ein Lotterielos. Man sollte sich diesbezüglich keine großen Hoffnungen machen und trotzdem, alles ist möglich. Ja, wirklich alles ist möglich. Ein schöner Gedanke. Doch so unbarmherzig wie das Leben, so unbarmherzig würde auch das Los entscheiden. Es würde sich nicht fragen, ob man es verdient hätte zu gewinnen, ob man ein schlechter Mensch gewesen war und somit keinen Anspruch hätte auf ein bisschen Glück. Das Los wäre ein Gewinnerlos oder eben nicht. Damit müsste man sich abfinden, wie man sich mit vielem abfinden muss. Das Los würde sich nicht ändern. Die Änderung müsste man schon selbst herbeiführen und das wäre möglich. Man könnte sich anpassen an ein gutes oder ein schlechtes Los und das Beste daraus machen. Plötzlich hätte das Los keine Macht mehr. Es wäre egal, ob man ein gutes oder ein schlechtes gezogen hätte, denn man würde so oder so klarkommen. Es wäre einerlei.

Ob mir Losglück zuteil wurde, kann ich momentan nicht beurteilen. Ich fühle mich erbärmlich, aber trotzdem so gut wie lange nicht mehr. Bin ruhig und ausgeglichen. Befinde mich in einem fast meditativen Zustand der Selbstreflexion. Wer bin ich? Welchem höheren Zweck dient meine Existenz? Schwer sind diese Fragen und bitter wie Medizin.

Auf dem Holztisch vor mir ruht ein Manuskript. Es ist dünn. Nur auf den ersten Seiten finden sich einige Buchstaben, welche allerdings in scheinbar willkürlicher Abfolge aneinandergereiht wurden und auch nach mehrmaligem Lesen keinen Sinn ergeben. Es scheint sich um eine verschlüsselte Botschaft zu handeln. Vielleicht ein Code? Ein Rätsel? Plötzlich kann ich mich vage erinnern, dass ich morgens oft stundenlang die Toilette nicht verlassen habe, um endlich eines dieser zermürbenden Sudokus zu lösen. Den Gestank habe ich dabei ausgeblendet. Erst die Schreie und Fluch-Attacken, die nach meinem Toilettengang durch das Haus hallten, erinnerten mich wieder daran, das nächste Mal doch die Spülung zu betätigen.

Unzählige langatmige Rätsel ließen sich so über die Jahre knacken und nach kurzer, intensiver Konzentration offenbart sich mir auch die Bedeutung des Buchstabengewirrs, das vor mir liegt. Diese Buchstaben könnten meine Rettung sein. Die Hoffnung auf eine andere, eine bessere Zukunft, nicht ohne Krankheit und Größenwahn, nicht ohne wirre Träume voll Aberglaube und Hysterie, aber dennoch besser. Ich wäre in der Lage, sie zu gestalten. Ich wäre imstande, eine Wende herbeizuführen. Ich wäre es, der die Buchstaben in der richtigen Abfolge aneinanderreihen würde. Weiterschreiben muss ich. Weiterschreiben am Manuskript. Ich kann es tun. Ich muss. Immer schon wollte ich einen Roman schreiben. Eine Geschichte in die Welt schmeißen, die nicht meine eigene war. Die nicht schäbig war. Eine Geschichte, die besser war als meine es jemals sein würde und sei es nur darum, dass sie anders war. Nie hatte ich Zeit. Keine Ahnung warum. Ich kann mich einfach an nichts Genaueres erinnern. Macht nichts. Diese Buchstaben sind ein Zeichen und der Roman mein neuer Weg. Mein neues Leben. Meine Auszeit. Meine Möglichkeit, jemand zu sein, der ich nie war. Ich darf keinen Moment mehr vergeuden, muss endlich anfangen zu schreiben.

Langsam versuche ich mich in meine Geschichte hineinzudenken und fange an, erste Ideen und vor allem Protagonisten herauszuarbeiten. Zunächst fällt mir ein Herr mit Dackel ein. Er könnte mein Hauptdarsteller sein. Viel zu einfach – oder doch nicht? Ich überlege weiter. Etwas Besseres fällt mir nicht ein und mich übermannt ein ungutes Gefühl. Ein Gefühl, als wäre ich ein Auslaufmodell. Eine alte Gerätschaft, der die Ersatzteile fehlten, ginge sie in die Brüche. Ein Museumsstück, das nur vom Staub der Jahre zusammengehalten wurde. Noch hier, aber doch schon eine Erinnerung. Wie furchtbar! Oder gar eine Erlösung? Nein, doch furchtbar. Ohne Umwege und mit der Angst im Nacken beginne ich also.

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