„Sollen wir uns noch in dieses Buch eintragen?“ rief Birgit, die mit Carola zusammen einige Schritte weiter zum Besucher- oder Gipfelbuch gegangen war, das in einer Holzlade wetterfest aufbewahrt wurde. Die Kinder hatten schon einige Sprüche darin gelesen und baten Lenning, ihnen doch einmal kurz etwas in einer fremden Schrift vorzulesen und zu übersetzen. Lenning begab sich zu den Kindern und stellte fest, dass hier in kyrillischer Schrift etwas stand.
„Prost!“ und dann stand da ein Name. „Lebe einhundert Jahre!“ und wieder „Prost 2001!“
„Da waren schon Russen gewesen.“ meinte Lenning und schenkte dem weiter keine Bedeutung, doch plötzlich blieb sein Auge auf der letzten Eintragung hängen. Hier stand: „Datum ................., K. und O. Jeschke, endlich wieder einmal Urlaub...“ und in Klammern stand „Neujahr 2001.“
Lenning blätterte noch einmal zurück. An der kyrillischen Eintragung blieb er hängen. Lenning blätterte nach vorne, wo sich der Eintrag in kyrillischer Schrift befunden hatte. Er überflog die darüber und darunter liegenden Eintragungen und fand tatsächlich den Namen Jeschke. Die Schrift darüber war sehr schwierig zu entziffern. Wahrscheinlich waren den Schreibenden nach einer Skitour die Finger noch steif; jedenfalls war die Tour mit jemand anderen unternommen worden, dessen Namen jetzt unleserlich und teilweise von der Nässe verwischt war. Lenning überlegte und rief Ellen. Ellen kam – teils war sie neugierig, teils ärgerlich über diesen neuen Fund, der den bisher so harmonisch und idyllisch verlaufenden Ausflug eine Komponente zu verleihen drohte, die alte Ressentiments wiederbeleben konnte.
„Was sagst Du dazu?“ Lenning zeigte ihr zuerst die letzte Eintragung und dann die Eintragung zum Jahreswechsel.
Ellen hatte im Rahmen ihrer beruflichen Erfahrung auch eine gewisse Fähigkeit im Handschriftenlesen entwickelt, konnte jedoch die verwischten erwähnten Namen nicht entziffern. Stattdessen zeigte sie auf eine Eintragung darunter.
„Sieh mal hier, da steht doch Lenning und der hieß auch noch Wolf. Welch´ sonderbarer Zufall“, meinte sie fast schon ärgerlich. „Du warst doch auch schon einmal hier.“
Lenning kam aus dem Staunen nicht mehr heraus. „Natürlich war ich schon hier, aber nicht an Neujahr! Du weißt doch, wann ich da war.“
Das schien Ellens aufkommenden Zorn niederzuhalten, denn an Silvester war Lenning zu Hause gewesen. Er überlegte kurz.
„Es gibt verschiedene Personen dieses Namens, das ist richtig. Aber irgendwie weiß ich über alle Bescheid und es würde an ein Wunder grenzen, wenn dieser Lenning hier mit mir nicht bekannt oder sogar verwandt sein sollte. Kannst Du das andere lesen?“
Ellen versuchte es und immerhin einigte man sich darauf, dass in irgendeinem Zusammenhang mit Wolf Lenning dieser Ausflug unternommen worden sein sollte und man ihm deshalb Dank schulde bzw. froh darüber war. Eine Unterschrift Lennings erschien nicht.
„Hast Du mit diesem Jeschke vielleicht einmal über Tirol gesprochen?“ fragte Ellen plötzlich.
„Kann schon sein, aber Genaues weiß ich nicht. Außerdem ist das nicht in dem Teil, im dem Lenning erwähnt wird.“
„Nein, das hier ist eine andere Schrift. Wie lautet denn hier die Unterschrift?“
Lenning versuchte den Namen aus der Unterschrift zu lesen, war jedoch nicht dazu in der Lage.
Ellen meinte “Steiner“ lesen zu können, aber Lenning kannte keinen Steiner.
„Schau´ mal, das sieht aus wie eine weibliche Schrift.“
Lenning fiel niemand ein. „Wir werden das Buch dem Commissario mitbringen.“ bestimmte Lenning.
„Pass´ auf, dass wir nicht unfreiwillig hier länger Urlaub machen. Stell´ Dir vor, der Commissario sieht einen Zusammenhang zwischen diesen Fällen und behält Dich hier“, spottete Ellen, aber mit einem Gefühl für die Wirklichkeit pflichtete sie Lenning bei, dass der Commissario Kenntnis von dieser Eintragung erlangen müsste.
„Wir rufen ihn an und er soll sich das Buch holen.“
„Das würde mich ja aber direkt verdächtig machen“, erwiderte Lenning und Ellen fand dagegen kein Argument.
„Wenn ich mir schon die Mühe mache, dieses Buch dem Commissario zu bringen, - und nur ihm würde ich es geben - dann würde er mich wohl kaum veranlassen, länger zu bleiben, sozusagen als Dank für die Hilfe.“
Ellen musste hier zustimmen und so packte Lenning das Buch in den Rucksack.
Die Wanderer hatten jetzt schon wieder mindestens eine viertel Stunde verloren und beeilten sich, den Weg fortzusetzen. Die Sonne war immer tiefer gesunken und ein geradezu rötliches Licht ließ die umliegenden schneebedeckten Gipfel erglühen.
„Ist das schön. Sollen wir noch ein bisschen filmen?“ fragte Lenning und zog schon die Videokamera hervor.
„Ich denk´, wir haben es so eilig. Bei Licht kommen wir heute nicht mehr an.“
Lenning meinte, er komme im Laufschritt nach, die anderen sollen vorangehen.
Tatsächlich filmte er die Familie samt Hund vor den im Abendrot erglühenden Gipfeln und setzte sehr schnell nach. Es ging jetzt ein relativ ebener Pfad in einem nach links steil abfallenden Gelände und die Landschaft wurde zunächst immer wilder. Ellen vertraute zuviel auf Wolfs Ortskenntnis, als dass sie Bedenken bekommen könnte, aber die Kinder wendeten sich ängstlich an ihren Vater.
„Bist Du sicher, dass das der richtige Weg ist? Wir haben immer noch die gleiche Höhe.“
„Ja, Ihr Braven. Da vorne geht es umso steiler bergab.“
Die Gruppe marschierte jetzt schnellsten Schrittes, ständig in die Sonne blickend. Nach einiger Zeit sah man auf einem Plateau etwas tiefer eine Almhütte liegen und Lenning erklärte:
„Das ist schon die obere Kofler Alm. Bald haben wir es geschafft.“
Ellen und die Kinder hatten gar keine Zeit gehabt, den Mut zu verlieren und marschierten sehr tapfer in die angegebene Richtung. Schließlich war die Sonne hinter der gegenüberliegenden Bergkette verschwunden und man merkte augenblicklich einen Temperatursturz.
Ellen fröstelte. „Wie lange dauert es noch?“ fragte sie Lenning, der gerade auf die Uhr schaute.
„Es dauert mindestens noch eineinhalb Stunden. Also beeilt Euch!“
Und daraufhin ging es noch schneller als vorher über Felsstücke, denn der Pfad kreuzte hier ein Geröllmeer. Danach ging es auf einem gut ausgebauten Wanderweg sehr steil bergab und man erreichte eine weitere Hütte, vor der ein ausgehöhlter Baumstamm noch fließendes Wasser enthielt. Die Kinder hatten diesmal nicht den für sie typischen Durst und überquerten die Hangwiese, um zum Waldrand zu gelangen, wo der Weg deutlich erkennbar weiterführte. Spuren sah man auch hier keine, so dass man sich sicher sein konnte, allein zu sein. Lenning führte die Gruppe nunmehr auf einen sehr steil abwärts fallenden Weg, der schließlich in Serpentinen überging. Inzwischen war es dunkel geworden. Schließlich überquerten die Wanderer eine Straße und noch bevor Ellen fragen konnte, wo diese hinführte, zeigte Lenning ihnen einen absolut verborgenen Pfad, den man im Dunkeln überhaupt nicht als solchen hätte wahrnehmen können.
„Hier müssen wir durch!“
Nun ging es fast wirklich nur durch Gestrüpp und Ellen stolperte zweimal, jedoch ohne hinzufallen. Die Kinder waren nun nicht mehr stumm, sondern begannen zu jammern und schon nach ganz kurzer Zeit hatte man das Wäldchen durchquert und sah nun das erleuchtete Dorf unmittelbar vor sich, nur noch getrennt durch eine allerdings sehr steil abfallende Wiese.
„Du weißt, ich hab wehe Knie und eine wehe Hüfte und kann nicht mehr und hier diese Steile vermag ich schon gar nicht hinunter zu kommen“, jammerte jetzt auch Ellen und wollte sich zuerst weigern hinunter zu gehen.
Lenning meinte lakonisch: „Es gibt keinen anderen Weg, es sei denn, Du willst durch das Wäldchen zurück steigen.“
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