„Bea, wir fahren heute noch nach Braunschweig...“
Eine Rückfrage von Bea war anscheinend nicht nötig gewesen, denn das Telefongespräch wurde rasch beendet. Wölfi hatte im Übrigen grundsätzlich etwas gegen das Telefonieren, denn in den heutigen Zeiten sind Telefongespräche die Quelle vieler Ärgernisse. Er schaute seinen Vater noch sorgenvoller an und fragte:
„Wann geht´s los?“
Lenning, der seinen freien Nachmittag schon längst vergessen hatte, sagte mit Blick zur Uhr: „In einer Viertelstunde. Du kannst schon das Auto holen.“
Wölfi hatte verstanden. Für weitere Gespräche war ja jetzt einige Stunden lang Zeit, denn von Landau nach Braunschweig sind es immerhin etwas mehr als 450 km.
Eine halbe Stunde später schon brauste der schwere Wagen mit 4 Personen auf der A5 nach Norden. Rechtsanwalt Lenning saß selbst am Steuer. Auf dem Beifahrersitz hatte Wölfi Platz genommen, während Bea und Dax im Fond saßen. Dax war es zwar gewohnt, hinten die gesamte Breite der Rückbank einzunehmen; dennoch war es ihm lieb, einen Beifahrer neben sich zu haben und so schaute er interessiert zu Bea, die ihn ab und zu im Nacken kraulte. Zu viel Zuwendung durfte Dax nicht erfahren, weil er sonst regelrecht zudringlich zu werden pflegte. Im harmlosesten Fall fuhr er dann seinem Gegenüber mit der Zunge wie mit einem Waschlappen über das Gesicht.
Lenning empfand es als selbstverständlich, dass sein Sohn neben ihm Platz genommen hatte, denn im Normalfall saß Wölfi immer vorne. Am Anfang hatte sich Lenning darüber gewundert, weil er noch von der Vorstellung ausgegangen war, der Platz neben dem Fahrer gebühre der Dame, aber weil er sich bei weiterer Überlegung dies eigentlich nicht ganz schlüssig erklären konnte, akzeptierte er diese Verfahrensweise ohne jeden Einwand.
Beim Start war man diesmal extrem still gewesen. Nichts sollte vergessen werden oder dem Zufall überlassen bleiben. Der Plan war relativ einfach. Lenning wollte mit Wölfi und Bea nach Braunschweig fahren, um zunächst einmal den Wagenschlüssel für den BMW bei der Polizei abzuholen. Dann wollte man gemeinsam essen gehen und danach sollte Wölfi mit Bea im BMW Hildegards zurück in die Pfalz fahren, denn Hildegard würde das nächste Jahr ohnehin kein Fahrzeug brauchen und Wölfi hatte seinen Oldtimer als solchen angemeldet und wollte nicht immer mit dem auffälligen Kennzeichen herumfahren. So kam ihm dieser Umstand sehr entgegen, da er schon gern einmal Hildegards BMW für längere Zeit zur Verfügung gehabt hätte.
Nach einer kurzen Mahlzeit bei einem Schnellrestaurant war die Stimmung wesentlich entspannter. Zwar hatte die Staatsanwältin, mit der Lenning telefoniert hatte, diesem zugesichert, einer Hausdurchsuchung bedürfe es nicht; Lenning aber traute dem Frieden von Grund auf nicht und wollte einen „sensitiven“ Koffer, der in Hildegards Wohnung stand, unbedingt mitnehmen, damit dieser eine neue Heimstadt finden würde. Wölfi kannte insofern alle Umstände und es musste zwischen beiden kein Wort gewechselt werden, denn eins stand fest: Der Koffer musste in Sicherheit gebracht werden. Die Fahrt verlief im übrigen sehr schnell und ohne jede Komplikation. Es war noch heller Tag, als das Fahrzeug das Autobahndreieck Salzgitter passierte und wenig später (bei diesen Geschwindigkeiten wirklich nur kurze Zeit später) verließen die vier die Autobahn bei Braunschweig. Warum ist Hildegard nach Braunschweig gegangen, fragte sich Lenning in diesem Augenblick. Das waren wohl familiäre Gründe gewesen, denn Hildegards Vater hatte ihr dort eine Stellung bei einer Wirtschaftsprüfungsgesellschaft verschafft, die seinerzeit das elterliche Unternehmen prüfte und betreute. Nach dem Tod des Vaters hatten sich auch hier die Verhältnisse maßgeblich geändert und Hildegard war bereits nach einiger Zeit dort ausgeschieden.
Hildegard hatte sich dann endlich in überregionaler Sozietät mit Lenning selbständig gemacht und das Büro lief eigentlich recht ordentlich an. Die anfängliche übermäßige berufliche Belastung führte dazu, dass Hildegard Alfred-Wolf nicht ausreichend betreuen konnte. Alfred-Wolf war Hildegards und Lennings gemeinsamer Sohn, der lange Zeit eine für die schwierige familiäre Situation erstaunliche Stabilität zeigte. Lenning war hierüber grundsätzlich erfreut und sah immer sein Engagement in Braunschweig als Zukunftsinvestition für Alfred-Wolf oder Freddy, wie er ihn meistens nannte. Freddy war auch ein guter Schüler.
Inzwischen war Lenning beim Polizeipräsidium in Braunschweig vorgefahren. An einem Nebeneingang erhielt er Einlass zur Wache, wo man ihm nach einigem hin und her den Autoschlüssel für den BMW aushändigte. Die Beamtin musterte Lenning von oben bis unten und schien etwas auf der Seele zu haben. Lenning sah man sein Alter in keiner Weise an. Er war jetzt Anfang 50 und fühlte sich aber noch sehr viel jünger. Die Beamtin, die wohl Anfang 20 war, war auffallend hübsch. Ihr blondes Haar war in einem Knoten zusammengefasst und Lenning stellte sich vor seinem geistigen Auge vor, wie die Beamtin aussehen musste, wenn der Knoten gelöst war. Lenning schien der Beamtin sympathisch zu sein, denn sie ergriff plötzlich die Gelegenheit, Lenning zu informieren: „Ich war dabei, als Frau Rechtsanwältin Baumer in die Verkehrskontrolle geraten war“.
„Ah, ja,“ Lenning horchte auf. „Was für eine Blutalkoholkonzentration wurde denn festgestellt?“
Die Beamtin schaute Lenning von der Seite an.
„Das darf ich Ihnen nicht mitteilen“.
„Dann unterstellen Sie, dass ich der Verteidiger bin!“
„Auch dann darf ich noch nichts sagen, denn die Ermittlungen sind noch nicht abgeschlossen.“
Sie wandte Lenning wieder das Gesicht zu. Lenning schaute ihr in die großen Augen und suchte einen Punkt, an dem er sich festhalten konnte. Diesen Punkt gab es.
„Können wir hier nicht eine Ausnahme machen?“.
Lenning lächelte freundlich. Die Beamtin wurde plötzlich rot. Sie schlug die Augen nieder, griff dann in irgendeine Ablage nach rechts unten und zog eine Akte hervor. Wortlos schob sie sie Lenning hin. Die Akte war nicht besonders dick. Aber Lenning sah sofort, was er zu sehen wünschte: Blutalkoholkonzentration 2,... Lenning kam nicht weiter. Er blickte auf die Beamtin.
„Das war doch morgens um 11:00 Uhr!“
„Ja!“ sagte die Beamtin und schlug die Augen wieder nieder.
„Was war dann, wieso wurde die Beschuldigte mit zur Wache genommen?“
Die Beamtin schaute Lenning erst verständnislos an, dann glitt ein schüchternes Lächeln über ihre Züge und sie wiederholte: „Sie wurde mit zur Wache genommen – gefesselt.“
Lenning war erstaunt, Hildegard hatte hiervon gar nichts gesagt.
„Warum?“
„Weil sie um sich schlug“, sagte die Beamtin und schaute zur Wand.
„Ja und wie sind Sie denn da drauf gekommen, wie ist sie denn Ihnen aufgefallen?“
Der Blick der Beamtin wechselte von der Wand zum Fenster.
„Die Frau an der Tankstelle hat uns darauf aufmerksam gemacht. Die Beschuldigte hatte einen sehr wirren Eindruck dort hinterlassen und zudem drei Underberg gekauft“.
Nun glitt ein schüchternes Lächeln über Lennings Gesicht.
„Und von wem ging die Sache mit der Durchsuchung aus?“
„Nicht von mir!“ sagte die Beamtin. „Der Streifenführer wollte nur sicherstellen, dass die Beschuldigte nicht wieder am Straßenverkehr teilnimmt.“
„Ah, so,“ dehnte Lenning, „dann werde ich jetzt dafür sorgen, dass diese Gefahr wirklich ausgeschlossen ist.“
Er griff nach dem Schlüssel.
Die Beamtin verabschiedete sich mit einem sehr freundlichen Lächeln.
„Auf Wiedersehen, Herr Lenning!“ sagte sie und verschwand sofort nach hinten.
Lenning verließ die Wachstube und ging zu dem Fahrzeug, wo Wölfi, Bea und Dax warteten.
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