Spencer wusste, dass das Ereignis der vergangenen Nacht eine große Krise heraufbeschwören konnte, dessen Ende nicht nur seinen politischen Tod zur Folge haben könnte.
Er trat mit der Kaffeetasse in der Hand wieder ans Fenster und überlegte. Wollte er wirklich noch eine zweite Amtszeit? Er war sich nicht sicher, ob er das Stehvermögen für einen erneuten Wahlkampf hatte. Die Reisen durchs ganze Land ödeten ihn und Caroline an. Andererseits war Spencer gierig nach Macht geworden. Außerdem würde man ein Aussteigen Spencers nicht akzeptieren. Denn im Gegensatz zu seinem Herausforderer, hatte Spencer einen großen Vorteil. Er musste nicht diese endlose Geldbeschafferei über sich ergehen lassen, um seinen Wahlkampf zu finanzieren. In Spencers Hintergrund stand mit der Suma Corporation eine Organisation, die alle seine Wahlkämpfe nicht nur finanziert hatte, sondern sein gesamtes politisches Leben versorgt hatte – und dort würde niemand ein Aussteigen akzeptieren. Und ihm war klar, dass man der Forderung nachhaltig Ausdruck verleihen würde, denn die Suma Corporation arbeitete nach dem Motto, wer nicht für sie war, war gegen sie. Und dann gab es genügend Mittel, den Gegner zum Schweigen zu bringen.
Spencer erschauderte bei dem Gedanken.
Er leerte seine Tasse und ging zurück, um sich noch einen Kaffee einzugießen. Spencer zog sein Jackett aus und nahm in einem schweren Ledersessel Platz.
Manchmal wunderte er sich, dass bisher niemand von den Pressegeiern hinter die Identität der Suma Corporation gekommen war. Aber die Tarnung dieser Organisation war so perfekt, dass ein Zusammenhang nicht zu erkennen war. Aber auch Spencers näheres Umfeld hatte sich nie gewundert, woher seine schier nie zu versiegenden Quellen stammten. Nicht einmal seine Sicherheitsbeauftragte Rachel Anderson, seine engste Mitarbeiterin, hatte eine Ahnung, wer wirklich die Fäden im Weißen Haus in der Hand hielt. Oft hatte Spencer vorgehabt, Rachel in alles einzuweihen, sich aber dann doch im letzten Augenblick dagegen entschieden. Rachel alles zu erzählen, hätte bedeutet, die junge Frau in Gefahr zu bringen. Denn er war sich sicher, dass Rachel nie akzeptieren würde, was er akzeptierte und was dann mit ihr passieren würde, konnte sich Spencer ausmalen.
Ein Blick auf die Uhr verriet ihm, dass der Hubschrauber bald landen würde. Sein Herzschlag erhöhte sich, als er daran dachte, was er gleich würde tun müssen.
Er verabscheute diesen Gedanken, aber er war unumgänglich. Spencer nahm einen weiteren Schluck aus seiner Tasse. Es gab Dinge, die hasste er an diesem Amt, aber sie waren trotzdem nicht zu verhindern. Das folgende Gespräch mit Jack Reilly gehörte eindeutig dazu, aber nochmals sagte er sich, dass es absolut notwendig war.
Nathan Spencer erhob sich und zog sein Jackett wieder an, während er noch einmal die Worte durchging, die er gleich an Jack Reilly richten würde.
Luftraum nach Camp David
Jack brauchte nur zehn Minuten, um ein paar Sachen zu packen und an Bord des Pave Hawk zu steigen. Er war noch nicht richtig angeschnallt, da war der Helikopter bereits wieder in der Luft und zog eine enge Kurve, die Jack einen beeindruckenden Blick auf den St. Lorenz Strom erlaubte.
Der Black Hawk jagte durch den Morgenhimmel und erstmals seit drei Jahren spürte Jack, dass sich sein Pulsschlag etwas erhöhte. Seine Gedanken kreisten um den Brief. Die Nachricht war genauso kurz, wie prägnant. Präsident Nathan Spencer bat Jack um ein sofortiges Treffen, in einer äußerst wichtigen Angelegenheit.
Spencer war ein alter Freund von Jacks Vater und kannte ihn schon von Kindesbeinen an. Für Jack stand außer Frage, dass es wirklich wichtig sein musste, wenn der Präsident Jacks freiwillig gewähltes Exil störte.
„He!“, rief er dem Piloten zu. Seine Stimme ging im Rotorenlärm fast unter. „Wo will mich der Präsident denn treffen? Fliegen wir direkt nach Washington?“
Der Pilot schüttelte den Kopf. „Der Präsident befindet sich heute nicht im Weißen Haus. Wir fliegen direkt nach Camp David.“
„Werden noch andere Personen dort sein?“
„Negativ, Sir. Soweit mir bekannt ist, wünscht der Präsident eine private Unterhaltung mit Ihnen.“ Damit war das Thema für den Piloten beendet und er würdigte Jack keines Blickes mehr.
Zwei Stunden später näherte sich der Helikopter seinem Ziel. Als die Maschine tiefer ging, erkannte Jack den geschichtsträchtigen Ort, den er noch nie zuvor besucht hatte.
Camp David diente als Landsitz des amerikanischen Präsidenten und lag etwa fünfundsechzig Kilometer nordwestlich von Washington im Staate Maryland. Immer wieder war der Ort Zeuge zeithistorischer Treffen gewesen. Neunzehnhundertneunundfünfzig fanden hier Gipfelgespräche zwischen Präsident Eisenhower und Nikita Chruschtschow statt, die wesentlich zur Ost-West-Entspannung beitrugen. Einer großen Öffentlichkeit wurde Camp David ein Begriff, als dort der israelische Premierminister Menachem Begin und der ägyptische Staatspräsident Mohammed Anwar as-Sadat unter maßgeblicher Beteiligung von Präsident Carter über einen Frieden im nahen Osten verhandelten.
Jack fragte sich einmal mehr, was der Präsident von ihm wollte. Was war so wichtig, dass er ihn per Helikopter nach Camp David bringen ließ?
Der Pilot überflog eine Zufahrtsstraße, die von Eichen gesäumt wurde und steuerte direkt auf das mehrstöckige Hauptgebäude zu. Jack war etwas überrascht, als er sah, dass hinter den Gebäudetrakten eine F-14 Tomcat stand. Die Sache wurde immer mysteriöser.
Der Pave Hawk setzte unweit des Haupthauses auf. Sofort stoppte der Motor und Jack war für den Augenblick der Ruhe dankbar.
„Mister Reilly?“ Ein Mann vom Secret Service im dunklen Anzug öffnete die Tür. „Der Präsident erwartet Sie bereits.“
Jack folgte dem Mann zu dem imposanten Anwesen, das nur wenige Schritte entfernt war. Sein geschulter Blick verriet ihm, dass noch weitere Secret Service Agenten an strategisch wichtigen Punkten platziert waren.
Er folgte dem Mann und gemeinsam betraten sie das von außen eher schlicht wirkende Hauptgebäude. Sie passierten eine kleine Diele, deren Ausmaße einer kleinen Einzimmerwohnung glichen und traten in ein Konferenzzimmer, dessen Anblick Jack für einen Augenblick den Atem raubte.
Jacks Schritte waren auf dem dicken Teppichboden nicht zu vernehmen. Und die Inneneinrichtung war luxuriös. Ein langer Konferenztisch aus Ahornholz, um den komfortable, lederbezogene Stühle standen, ein von Messinglampen flankiertes Sofa und eine große Mahagonibar mit einer schier unglaublichen Auswahl feinster Spirituosen.
Jack konnte in diesem Augenblick Begin und Sadat vor sich sehen, wie sie mit Carter am Tisch saßen und über weltpolitische Dinge diskutierten.
Dieser Raum strahlte Macht bis in den letzten Winkel aus. Dies wurde durch das überdimensionale Staatswappen unterstrichen, dem Weißkopfseeadler mit dreizehn Pfeilen und einem Ölzweig in den Klauen, das hinter dem Schreibtisch prangte und auch in die Sofakissen eingestickt, in den Eiskübel eingraviert und sogar auf die Glasuntersetzer aufgedruckt war.
„Nehmen Sie bitte Platz, Jack. Der Präsident wird in wenigen Augenblicken hier sein.“ Etwas erschrocken fuhr Jack herum und sah, wie der Secret Service Mann das Zimmer verließ.
Jack ging an die Bar und goss sich zwei fingerbreit Scotch ein. Er nippte an der sicher sündhaft teuren, goldschimmernden Flüssigkeit und fragte sich zum wiederholten Male, was der Präsident der Vereinigten Staaten von ihm wollte?
Camp David
„Jack! Was für eine Freude, dich wiederzusehen“, sagte Spencer, während er Jack die Hand schüttelte. Sein Händedruck war fest und warm.
Jack kämpfte einen Augenblick mit den Worten. „Mr. President, es freut mich...“
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