„Nun“, dabei sah er von Samantha zum Alten und wieder zurück. Den Blick wieder auf den alten Mann gerichtet, fuhr er fort. „Nun, er hat mehrere Prellungen und diverse Abschürfungen. Die meisten Schnitte sind nur oberflächlich und werden sicher gut verheilen. Was den hohen Blutverlust und die Wunde am Kopf betrifft, sowie die daraus resultierende Bewusstlosigkeit, das wiederum ist eine ernstere Angelegenheit!“
„Wird er es schaffen?“ Fast ängstlich hing Samanthas Blick an den Lippen des Arztes.
„Ja, das einzige was er braucht, ist Ruhe, sowie die entsprechende medizinische Versorgung. Wir werden ihn einige Zeit hier behalten müssen.“
„Er weiß nicht mehr, wer er ist!“
„Das wird sich mit der Zeit legen. Eine Amnesie ist bei solch einer Verletzung nichts Ungewöhnliches und sie vergeht meist nach kurzer Zeit auch wieder.“
Dr. Schmidt klopfte mit seinem Stift auf die digitale Akte. Er kannte Jonas Brand und seine Enkeltochter recht gut und wusste, das sie herzensgute Menschen waren.
Immer hilfsbereit und nie nach eigenen Profiten gierend. Er
mochte den Alten sehr und Samantha war zu einer hübschen jungen Frau herangewachsen. Es tat ihm Leid, wie einige über die Brands sprachen und wünschte ihnen nur das Beste.
„Jonas, ich weiß, dass sie sich um diesen Mann kümmern würden, doch will ich das nicht voraussetzten. Darum werde ich die Polizei benachrichtigen, damit sie sich um ihn kümmern können.“ Jonas winkte ab. „Ach was, das ist nicht nötig. Sammy hat ihn gefunden, und ihr Gesicht hat er schon gesehen. Das würde ihm sicher helfen sich wieder zurecht zu finden und sein Gedächtnis wieder zu erlangen. Und sollte das dann nicht funktionieren, können wir immer noch die Polizei um Hilfe bitten!“
„Wie sie wollen. Obwohl das für mich einige Schwierigkeiten bedeuten kann, tue ich es gerne für sie und ihre reizende Enkelin. Sollte er jedoch innerhalb der nächsten sechs Wochen keine Fortschritte machen, werde ich es melden müssen!“
„Ich verspreche ihnen, dass er in einem Monat zu ihnen kommt und ihnen seinen Namen, sowie Adresse und, wenn sie es wünschen, auch sein Leibgericht nennen wird.“ Jonas zwinkerte Schmidt zu. „Sie werden schon sehen.“
„Jonas, ich nehme sie beim Wort. Und nun können sie zu ihm gehen.“
Samantha ging durch das endlos erscheinende Labyrinth aus Krankenhausfluren, auf der Suche nach der Station M6, Zimmer 23. Als sie es fand, traute sie sich aus einer unerklärlichen Scheu heraus nicht einzutreten. Sie hatte das unbestimmte Gefühl, dass, wenn sie dieses Zimmer betrat, sich ihr Leben von Grund auf ändern würde.
Wie sehr sie damit Recht hatte, konnte sie zu dem Zeitpunkt nicht einmal erahnen.
Vorsichtig und so leise wie irgend möglich betrat Samantha das Krankenzimmer. Es war hell und die Wände ockerfarben. Zwei Betten befanden sich an der der Tür gegenüberliegenden Seite. Nur eins davon war belegt.
Bewusstlos zwischen denn vielen blinkenden und piependen Geräten und den weißen Lacken liegend sah er richtig verloren aus. Ein großer weißer Verband umschloss seinen Kopf. Aus einem Infusionsbeutel tropfte langsam eine klare Flüssigkeit und gelangte über einen Schlauch in seinen Körper.
Behutsam zog sich Samantha einen Stuhl an sein Bett und setzte sich.
Mit einer Hand strich sie vorsichtig über seinen Kopf. „Es kommt alles wieder in Ordnung. Sie werden schon sehen. Sie sind nicht allein. Wir werden ihnen helfen!“
Samantha sah auf, als leise die Tür aufging.
Den zerzausten Kopf hinschiebend, lugte Jonas ins Zimmer. „Darf ich eintreten oder missfällt es der Heldin?“
„Oh, um Himmelswillen. Du sollst doch nicht immer so hemmungslos übertreiben!“ Übertrieben verärgert, drohte Samantha ihrem Opa mit dem Finger. „Hat dir das Mama nicht schon oft genug gesagt?!“
Feixend trat Jonas vollends ins Zimmer. „Oh, verzeiht bitte. Ich werde es nie wieder tun!“
Die Augen verdrehend wandte sie sich wieder dem Grund ihres hier Seins zu.
In den darauffolgenden Tagen, verbrachte Samantha viel Zeit im Krankenhaus. Sobald die Schule aus war, eilte sie dorthin und verbrachte jeweils drei Stunden damit, sich um den Mann zu kümmern und den Schwestern zu zuhören, die so einiges über sein Verhalten zu berichten hatten. Sie erwartete keine Dankbarkeit und doch verletzte sein Verhalten sie sehr. Immer wieder versuchte sie, es zu entschuldigen. Doch mit jedem Tag, der verging, fiel es ihr immer schwerer. Die Gefühle, die sie für ihn empfand, waren ihr neu und verwirrend. Das Ziehen in der Magengrube, das sie jedes Mal überkam, wenn sie ihn da blass und krank im Bett liegen sah, war genauso verwirrend wie die Magenkrämpfe, die sie verspürte, wenn er sie wieder mit seinen spitzen Bemerkungen angriff.
Als das zweite ihrer vierteljährlichen Praktika anstand, fand sie keine Zeit, ihn zu besuchen. In dieser Zeit war Jonas dann der Sandsack, gegen den die Beleidigungen prallten. Doch war Jonas nicht ganz so duldsam und konterte.
Inzwischen sind zwei Wochen seit dem Auffinden dieses Ekels vergangen, und er hat sich noch in keiner Weise gebessert. So viel schlechte Laune, wie dieser Mann verbreitet, würde für drei weitere Männer ausreichen. Es wird Zeit, dass ihm die Meinung gegeigt wird, aber mit Pauken und Trompeten, jawohl!
****
Seit Samantha das letzte Mal im Krankenhaus gewesen war, hatte sich von der Hektik her nichts verändert. Doch inzwischen kannte sie sich so gut aus, dass sie sich nicht mehr durch das ganze Gedränge schieben musste, sondern über Schleichwege ihr Ziel erreichen konnte. Vor dem Zimmer angekommen atmete sie tief durch. Das, was jetzt kam, war nicht als einfach zu bezeichnen. In den letzten Wochen
hatte sich der Zustand von Mr. X, so nannten ihn hier alle Schwestern und Pfleger, entschieden verbessert. Leider, wie sie feststellen musste. Er entpuppte sich als schwierig.
Die Schwestern stöhnten, wenn sie zu ihm ins Zimmer mussten. Einige verließen es fluchtartig und in Tränen aufgelöst. Er war unzufrieden mit allem und jedem und machte die Ärzte dafür verantwortlich, dass er immer noch nicht wusste, wer er war.
Und das, fand Samantha, entzog nun wirklich ihrem Einfluss. Sollte sich heute seine Laune immer noch nicht gebessert haben, würde sie ihm die Leviten lesen müssen. Das war sie den Schwestern, Dr. Schmidt und vor allem sich selbst schuldig.
Tief durchatmend klopfte sie an. Auf ein mürrisches „Herein!“ öffnete sie die Tür und trat entschlossen ins Zimmer. Was sie zu sehen bekam, war nun wirklich zu viel. Da saß dieser übelgelaunte Berg aus Muskeln, mit verschränkten Armen im Bett und blitzte ihr aus grauen Augen entgegen.
Wütend baute sich Samantha mit in den Hüften gestemmten Fäusten vor ihm auf. „Jetzt hören sie mir mal zu, sie eingebildeter, selbstverliebter, egozentrischer Macho. Oh nein, wagen sie es nicht, mich zu unterbrechen! Sie zerfließen hier im Selbstmitleid und gehen mit ihren Launen allen auf die Nerven. Die Hilfe, die ihnen gegeben wird, treten sie mit Füßen. Ich maße mir nicht an, zu wissen, was mit ihnen da draußen im Wald passiert ist. Doch ist das noch lange kein Grund, anderen, die nichts weiter damit zu tun haben, außer dem, dass sie ihnen helfen, das Leben zur Hölle zu machen!
Ich habe von ihnen keinen Dank erwartet, jedoch erwartete ich ein zivilisiertes Verhalten und nicht das Trotzverhalten eines Dreijährigen. Ich hätte sie dort liegen und verrotten lassen sollen. Aber nein, stattdessen nehme ich die lästigen Fragen, Blicke und Schmähungen auf mich und meine Familie, nur um von ihnen noch schlechter behandelt zu werden. Von mir aus können sie weiter den verwöhnten Jungen spielen, aber dann verzichte ich darauf, mich weiter mit ihrem Starrsinn abzugeben.
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