„Ich fahre gleich los, ich will mir vorher nur dein Gesicht ansehen. Und deinen Hals.“ Seine Brauen ziehen sich sorgenvoll zusammen, als er seine Hand nach mir ausstreckt. Seine Finger legen sich unter mein Kinn, seine Berührung ist so sanft, dass ich sie fast nicht spüre. Er betrachtet meine schmerzende Nase, hebt dann meinen Kopf leicht an, um die Dutzenden Schnitte auf meinem Hals zu betrachten. „Warte.“ Er klettert in den Laderaum des Transporters, kommt nach wenigen Minuten mit einem Handtuch und einer Flasche Wasser wieder nach vorne. Er presst das Handtuch fest auf die geöffnete Flasche, dann hält er sie kurz über Kopf.
„Es sieht toll aus, was du hinten gemacht hast.“ Behutsam tupft er mit dem feuchten Tuch meine Nase ab, wischt mir das Blut aus dem Gesicht und vom Hals. „Clever mit den Spanngurten, Kleines. Und das Bett sieht bequem aus, wir werden dort garantiert gut schlafen.“ Ich weiß, dass er nur mit mir redet, um mich zu beruhigen. Noch immer zittere ich am ganzen Körper, mein Herz schlägt noch immer viel zu schnell. „Tut deine Nase sehr weh?“ Ich blicke ihn stumm an, schüttele dann leicht den Kopf. „Halte lieber das Handtuch etwas gegen, es wird sie kühlen.“
„Okay.“ Ich flüstere, mein Hals schmerzt. „Können wir hier weg? Bitte?“
Liam gibt mir das Tuch. Er wirft mir einen besorgten Blick zu, dann startet er den Motor und fährt vom Hof. Ich sehe in den Seitenspiegel, sehe die Tankstelle immer kleiner werden. Erst als ich sie nicht mehr sehe, verlangsamt sich mein Herzschlag allmählich. Ich ziehe meine Beine auf den Sitz, umschlinge sie mit meinem linken Arm. Den rechten stütze ich auf den Knien ab, kann so besser meine schmerzende Nase kühlen.
Immer wieder sehe ich John vor mir, wie er grinsend seinen Gürtel öffnet, auf mich zukommen will. Ich kann das Japsen von Keith hören, als ich ihm das Messer in den Bauch gerammt, ihn getötet habe. Noch will ich nicht ganz begreifen, dass ich so eben einen Menschen getötet habe, einen von uns . Und noch weniger will ich begreifen, was sie uns antun wollten, mir. Sie haben sich bewusst gegen uns gestellt, in Zeiten, in denen die wenigen noch lebenden Menschen eigentlich zusammenhalten sollten.
Ich blicke aus dem Fenster, auf die vorbeiziehende Landschaft. Ich spüre Liams Blicke auf mir, immer wieder schaut er zu mir herüber. Ich weiß, dass er sich Sorgen um mich macht, wir fahren bereits seit mehreren Stunden, ohne dass einer von uns ein Wort gesagt hat. Das Handtuch in meinen Händen ist bereits getrocknet, ich halte es dennoch weiterhin an meine Nase. Meine Gedanken schweifen immer wieder ab, immer wieder zu der Tankstelle. Ohne Liam wäre mir dort etwas Schlimmeres widerfahren als der Tod.
Ich reiße mich von dem Fenster los und sehe zu ihm herüber. Mein Nacken schmerzt, da ich solange nach rechts geblickt habe. Liam hat das Steuer mit beiden Händen fest umfasst, seine Lippen sind aufeinander gepresst. Er macht sich noch immer Sorgen um mich. „Danke“, flüstere ich in die Stille hinein.
„Nicht dafür, Kleines“, sagt er schlicht.
„Doch. Ohne dich wäre ich … ich wäre …“ Erst jetzt dringt gänzlich zu mir durch, was er verhindert hat. Wieder beginnt mein Körper zu zittern, ein tiefes Schluchzen steigt in mir auf. Es bricht aus mir heraus, ich lege beide Hände auf mein Gesicht und beginne laut zu weinen.
Der Wagen wird langsamer, im nächsten Moment stehen wir. Ich höre Liams Gurt, als ich zwischen meinen Fingern zu ihm aufsehe, blicke ich direkt in seine bekümmerte, sorgenvolle Miene. Dennoch nimmt er mich nicht in die Arme und ich verstehe, dass er mich nicht gegen meinen Willen berühren will. Doch er würde mir niemals wehtun, ich weiß es einfach. Schluchzend schlinge ich meine Arme um seinen Hals und werfe mich an seine Brust. Sofort legt Liam seine Arme um mich, zieht mich fest an sich ran und hält mich einfach, während ich weine.
Die ganze Benommenheit fällt von mir ab, der ganze Schock. Seine Hände streichen beruhigend über meinen Rücken, in seinen starken Armen fühle ich mich sicher und geborgen. Ich weine lange, bis ich mich langsam beruhige und schließlich ganz verstumme. „Es ist okay, Eve“, sagt Liam leise, als ich still an seiner Brust ruhe, das Gesicht noch tränennass. „Es ist okay. Wir sind da raus, wir haben es geschafft.“
„Du hast mich gerettet“, flüstere ich.
„Du hast mich gerettet.“ Er drückt mich kurz fest an seine Brust, sein Gesicht in meinem Haar vergraben. Er atmet tief ein, dann lässt er mich los. „Du solltest etwas schlafen und dich ausruhen, Kleines.“ Er will den Motor wieder starten.
„Ich will nicht alleine sein“, sage ich leise. „Können wir – können wir nicht einfach eine Pause einlegen? Wir beide?“ Ich sehe zwischen meinen Wimpern zu ihm auf, sein Blick ruht auf mir.
„Vielleicht ist es wirklich das Beste“, antwortet er nach wenigen Minuten. Er betätigt die Türverriegelung und die Schlösser klicken beruhigend, als sie einrasten. Den Schlüssel lässt er stecken, für den Fall, dass wir schnell weiterfahren müssen. „Nach dir.“ Er deutet nach hinten.
Ich ziehe mich zwischen den Sitzen durch und er folgt mir. Müde lege ich mich auf die linke Seite des provisorischen Bettes und decke mich mit einer der Wolldecken zu. Liam zieht den Schlafsack auf und legt sich rein. Nachdem wir beide bequem liegen, sehen wir uns an. Seine Augen blicken noch immer besorgt drein, doch ein sanftes Lächeln spielt um seine Lippen. „Es ist wirklich sehr bequem“, sagt er leise.
Ich erwidere sein Lächeln schwach. „Danke.“
Sein Blick wird sanft. „Es war ein echt anstrengender Tag, Eve. Ruh dich aus.“
Meine Hand tastet nach seiner, als ich sie finde, umschließe ich sie fest. „Du auch. Schlaf gut.“
„Gute Nacht, Eve.“ Seine Finger verschlingen sich mit meinen. „Träum was Schönes.“
So schlafen wir schließlich ein.
04. August 2021, NEUE UND ALTE BEKANNTE
Logbuch-Eintrag 04
In Zeiten wie diesen muss man für jeden weiteren Tag, den man lebt, dankbar sein. Für jede weitere Stunde. Ich weiß, dass ich es ohne Liam niemals so weit geschafft hätte. Er hält mich am Leben, er ist der Grund, weswegen ich überhaupt weitermache, weiterkämpfe, in einer Welt, die schon lange verloren ist.
Wir haben zusammen schlimme Dinge erlebt, furchtbare Dinge, die uns einander näher bringen, zusammen schweißen. Ich brauche nur in seine grauen Augen zu sehen, für wenige Sekunden, und schon weiß ich, was er denkt und fühlt. Und meistens empfindet er dasselbe wie ich, macht sich über dieselben Dinge Gedanken und Sorgen. Wir haben gelernt einander wie ein Buch zu lesen.
Es ist so unglaublich wichtig in diesen Zeiten jemanden zu haben, dem man vertrauen kann. Der einem hilft, wenn man stürzt, anstatt einen als Köder zurückzulassen. Liam ist dieser Jemand. Wir sind so vielen Parasiten bisher begegnet, haben so viele Menschen gesehen, die dem Weg des alten Ehepaares gegangen sind.
Doch wenn ich nach einer kurzen Nacht meine Augen aufschlage, in sein Gesicht blicke, seine grauen Augen, dann weiß ich, dass wir es schaffen können. Dass wir es schaffen werden, solange wir einander haben und vertrauen. Ohne ihn wäre ich verloren in dieser grausamen Welt. Und er ohne mich.
Ich spüre Liams Blick auf mir ruhen, doch ich traue mich nicht von der Straße aufzusehen, um mich zu vergewissern. Wir sind nun schon seit Tagen unterwegs, auf dem Weg nach Arkansas, zu seiner Familie. Eigentlich ist es eine Strecke von einem knappen Tag, doch wir müssen oft weite Umwege in Kauf nehmen, teilweise mehrere Meilen zurückfahren, da eine erst vielversprechende Straße letztendlich doch durch stehende Autos oder Parasiten blockiert ist.
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