Marthe
Thüste, im Dezember 2009
Marthe
Tanja Flügel
published by: epubli GmbH, Berlin
www.epubli.deCopyright: © 2012 Tanja Flügel Alle Rechte vorbehalten ISBN 978-3-8442-2816-8 Gestaltung und Illustrationen Tanja Flügel Fotos Marcus Flügel Korrektorat / Lektorat Bettina Würrighausen
„Wir Menschen wissen überhaupt wenig über diejenigen, die uns in der Zeit vorausgegangen sind. Wir haben ihre Sehnsüchte übernommen, aber nicht ihre Erfahrungen.
Ich kann dir jedoch versichern, dass du mehr wissen wirst, wenn ich dir ihre Geschichte fertig erzählt habe. Dann wird dir klar sein, dass du ein Teil davon bist…“
Gioconda Belli, Das Manuskript der Verführung
…ist ein sehr alter Ort und liegt im Tal zwischen Ith und Thüster Berg an der Saale, einem Nebenflüsschen der Leine. Um 900 n. Chr. wurde seine erste Kirche errichtet. Die Stadt Wallensen war nur klein, ganz im Quadrat gebaut und mit Mauer, Wall und Graben versehen.
Seit vierhundert Jahren lasse ich mir nun schon bei jedem Glockenschlag die Luft durch die Haare wehen. Sie ist mal eisig kalt, hier in der Kirchturmspitze, mal fliegt der warme Duft von frischgemähten grünem Mai-Gras zu mir hinauf.
Wenn die Sonnenstrahlen heller werden und die feinen Staubkörner wie Goldplättchen durch die Luft flirren, ist es wieder einmal Sommer geworden in Wallensen, diesem kleinen Städtchen, das sich in der ersten Falte des baumbestandenen Tischtuchs versteckt, dass das Weserbergland übermütig auf die Gegend wirft.
Durch die tiefste Stelle zwischen Thüster Berg und Ith, fließen die klaren Wasser der Saale. Die wallenden Wasser, die Wallensen den Namen gaben. Natürlich kennt man auch andere, weniger poetische Erklärungen des Namens, aber wer einmal auf das Tal geblickt hat, wie es im Sonnenschein daliegt, wer die tiefen kalten Seen kennt, durch die die Saale ihr Wasser führt und nach Wallensen bringt, wird diese anderen Erklärungen als Zeitvertreib neunmalkluger Wissenschaftler verwerfen.
Es ist viel Wasser die Saale hinuntergeflossen in den letzten vierhundert Jahren und ich beobachtete, wie auf den wallenden Wassern Veränderungen gemächlich ins Dorf schwammen, eine Weile ankerten und wieder fortgetrieben wurden. Ein winziges, fast quadratisches Städtchen war Wallensen einmal; mit einer hohen Stadtmauer, einem großem Wall und einem tiefen Graben drumherum. Auch in diesem Graben flossen die Wasser der Saale und gaben ihr Bestes, um die Bürger vor den kriegerischen Horden zu schützen.
Schon vor meiner Zeit musste die Saale wieder und wieder hilflos zusehen, wie Brandgerüche durch den Ort zogen und die Flammen jedes Mal so viel schneller waren, als die Saale mit ihrem Wasser helfen konnte. Generationen von vor Not und Elend hoffnungslosen Männern schöpften, mit letzter Kraft und immer vergeblich, Löschwasser aus ihr. Schreiende Frauen und Kinder flohen im roten Feuerschein durch ihr Bachbett aus Wallensen.
Die Saale wusste nicht, dass es die Spiegelberger Grafen waren, deren Streitigkeiten mit Brandpfeilen in unser Städtchen getragen wurden. Sie sah nur wieder einmal Flammen in Wallensen, die alle Häuser und die Kirche zerstörten.
Bis ich geboren wurde, sorgte das Feuer noch dreimal in hundert Jahren dafür, dass Wallensen vollständig zu Asche wurde. Und jedes Mal bauten die Bürger, wie die fleißigen Ameisen, ihre Häuser wieder auf und erweckten den Ort zu neuem Leben.
In einer Zeit neuen Lebens haben die Wasser der Saale dann auch mich gesehen. Damals, als ich noch nicht Zaubertöne aus den Kirchenglocken lockte, sondern ein kleines Mädchen in einem grob gewebten Kittelkleid war, das es liebte mit den Füßen durch den kühlen Bach zu planschen und die Forellen zu erschrecken.
Ich war Marthe und ich wurde 1609 in Wallensen geboren. Marthe war mein Name, bis zu jenem Tag im Juli, an dem ich mich mit den Klängen der vier Glocken verband und schwor, als Sonntagsgeläut dem Ort und meinem Liebsten auf ewig treu zu bleiben. Ach, wie wenig konnte ich ihm helfen, meinem Conrad. Aber wie wunderbar ist es, nun schon seit so vielen Jahrhunderten die schweren Glocken nur durch einen sachten Stoß meiner Finger zum Schwingen zu bringen und ihren Stimmen zu lauschen.
Mein Name ist verloren, doch in dem Geläut der Wallenser Glocken könnt ihr meine Geschichte entdecken.
In den Tagen meiner Geburt lag der letzte Brand dreißig Jahre zurück und er war fast in Vergessenheit geraten vor den Schrecken der Pestepidemie, die sich 1598 mit einem Boten in die Stadt geschlichen hatte, der über den Ith geritten kam und kaum, dass er das steinerne Obertor passiert hatte, geschwächt aus dem Sattel auf den staubigen Weg rutschte.
Er fiel ein paar spielenden kleinen Kindern vor die Füße, bei ihnen war auch Johann, der Bruder meiner Mutter. Der Bote röchelte noch einige Male, versuchte in Todesangst, auf der Suche nach Beistand, die Hände der Umstehenden zu greifen und sank leblos in sich zusammen.
Neugierig begutachteten die Kinder den daliegenden Mann und wunderten sich, dass er sich nicht mehr regte. Sie konnten die Zeichen der Pest an dem Körper des Sterbenden nicht lesen, so scheuten sie sich nicht davor, ihn zu berühren, seine Uniform und seinen Reiseproviant in Augenschein zu nehmen und schließlich unter sich aufzuteilen, als sie sahen, dass er keine Verwendung mehr dafür haben würde. Glücklich über den zusätzlichen Bissen und begierig, die Neuigkeiten von dem toten Fremden zu verbreiten, rannten sie durch den Ort und zupften jeden, den sie trafen aufgeregt am Ärmel. Begeistert zerrten sie Geschwister und Freunde zu ihrem Fund und jeder nahm von den Habseligkeiten des Boten, was locker saß.
Mit einem Laib bestem Brot in der Hand, fröhlich die erbeutete Botenmütze aus feinem rot-blauen Stoff schwenkend, kam Johann zu Hause an.
Zuhause, das war die Hütte meiner Großeltern, die seit dem letzten Brand windschief an der Stadtmauer klebte und die nur die Hoffnung vor dem Zusammenbrechen bewahrte. Noch immer waren nur wenige Häuser nach der letzten Feuersbrunst wieder aufgebaut worden, Bauholz war knapp. Die Menschen hausten in kleinen, zugigen, wackeligen Behausungen, so dichtgedrängt in den schmalen Holzverschlägen, dass die Wände nachts oft wie eine zweite Haut an den Bewohnern klebten.
Die Nähe war ein zweckmäßiger Schutzmantel gegen die Winterkälte, doch die Pest nutzte ihn wie ein modisches Gewand, um sich ihren Vorteil zu verschaffen. Auf leisen Sohlen schlich sie sich zwischen die Menschen. Kaum hatte sie sich umgesehen, war ihr Plan gemacht und sie griff sich ihre Opfer. Bereits am nächsten Abend waren sie alle tot, die Kinder, die eben noch so glücklich ausgesehen hatten. Und am Tag danach viele ihrer Geschwister, die kleinsten zuerst, aber die Pest war nicht wählerisch.
Als meine Mutter Anna, damals noch ein kleines Mädchen, am Abend mit den Ziegen durch das Mühlentor heimkam, lag Johann bereits blass und sterbend auf seiner Strohschütte und ihre verängstigten Eltern schickten sie fort, um ihr Leben zu retten. Sie schlüpfte also wieder durch die Mühlenpforte und suchte sich außerhalb der Stadtmauern in ihrer Not ein Gestrüpp, in dem die Kinder in fröhlicheren Tagen Höhlen und Gänge gebaut hatten, und sah mit Todesfurcht der kommenden Nacht und ihrem weiteren Leben entgegen.
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