Fazit: Das missbrauchte und traumatisierte Volk, das Diktatur und Krieg noch in den Knochen spürt, dessen Narben noch längst nicht in Gänze gesichtet und schon gar nicht psychisch behandelt oder gar verheilt sind, bekommt zu hören: Nichts von dem neu Aufgebauten ist euer – sei es Arbeit, Rente, Lebensperspektive, Ausbildung der Kinder.
Ein Volk, das den Opferstatus mittels Scham bewahrt, kann man ganz leicht wieder in Unterordnungshaltungen hineinführen. Damit sie noch mehr tragen und schleppen und bezahlen und verzichten. Damit die Wirtschaft noch mehr verdient. Die Deutschen werden wieder von Deutschen in existenzielle Nöte gezwungen. Das ist der neue Krieg, der als solcher verschleiert und über den angepasst geschwiegen werden soll. Doch Unruhe, Unsicherheit, verhaltene Wut und Empörung sind aus verschiedenen Publikationen herauszulesen, in TV- und Hörfunk-Reportagen zu erkennen. Das ist tröstlich. Es rumort und arbeitet unter der Oberfläche. Was fehlt ist das Gefäß, in dem diese Gefühle gesammelt werden und zusammenfließen können, um zu einer positiven Kraft zu werden. Dieser reflektierende Geist der Mundaufmacher in Deutschland, soll in diesem Buch beschrieben und benannt werden, und zwar im Sinne eines „Sich zusammen hören“, wie Peter Sloterdijke es einmal formulierte, so dass sich der Wertegeist für Menschlichkeit und generell Leben gegenseitig stärkt. Es kann nicht mehr primär um Schuldzuweisung und Verurteilung gehen – das breite Schweigen – aus welchen Gründen auch immer – haben sicherlich viele Schuldige und Täter ungeschoren davon kommen lassen. Zu sagen, dass dies gewollt gewesen ist, lässt sich sicherlich aus dem Schweigen ablesen. (Denn: Es hätte und hat sowieso keiner zu- oder hingehört! Man wollte nicht mehr wissen, was da passiert ist. Hätte man gesprochen, hätte es leicht passieren können, als Neider oder Denunziant dazustehen. Ich war noch zu klein und deshalb kann ich hier keine Namen nennen, die mein Großvater von Personen nannte, die nach dem Krieg wieder mit Rang und Namen in der Gesellschaft lebten, wie zuvor in der Hitlerzeit. Diese Davongekommenen werden ihr Leben lang Angst gehabt haben – und/oder sie waren innerlich und/oder äußerlich auf der Flucht, und/oder, sind es immer noch. Um Heilung auch diesbezüglich zu bewirken, muss es darum gehen, zunächst nachzuvollziehen, warum es in Deutschland so ist, wie es ist. Am Ende müsste man nachvollziehen können, warum Deutsche Deutsche verarmen lassen und dieses Ergebnis, auch ohne großen Widerstand, politisch und wirtschaftlich gewollt, herbeiführen können. Dafür bedarf es eines weiteren Abhängigkeitsverhältnisses, wie es durch die kapitalistische Wirtschaft gegeben ist.
Es bleibt am Ende des Kapitels die Feststellung Gandhis bestehen:
Armut ist die schlimmste Form der Gewalt.
Aber: Wir sind nur dann vollends arm und verarmt, wenn Menschen sich nicht mehr äußern. Wenn sie schweigen. Dann kann sie niemand hören. Dann fehlt es überall im Lande an Verantwortungsübernahme. Dann sind wir alle gemeinsam wieder am Ausgangspunkt der deutschen Geschichte angekommen. Genauso, wie Menschen sprechenlernen müssen, muss jedoch ebenso die Bereitschaft, hören zu wollen, vorhanden sein. Es nützt nichts, wenn ein Mensch spricht und niemand da ist, der ihn hört! Der Erfahrung nach, haben Menschen immer wieder versucht, andere Menschen, sei es in Familien, Ämtern, Politikern und bei Gericht zu bewegen, zu zuhören: Aber es wurde (passiv oder aktiv) abgelehnt, zuhören. Gesagtes wird überhört, umgedeutet oder zurückgewiesen, und, wenn es ganz böse kam (oder kommt), ins Gegenteil verkehrt.
Dann wundert mich persönlich nichts mehr in Deutschland. Denn dann wird millionenfach in Deutschland immer wieder der alte Trümmerhaufen in der Wiederholung des unaufgearbeiteten seelischen Materials zelebriert: Gesellschaftlich in der Politik, ökonomisch in Unternehmen und existenziell quer durch die breite, und alle, ob Oben oder Unten, betreffende, individuelle und familiäre Lebensgeschichte. Die alten Machtverhältnisse erscheinen nur in neuen Kleidern – aber im Grunde ist alles beim Alten. Oben und Unten ist man sich einig, man sagt nichts. Unten zöge den Kürzeren, wenn es spräche. Die Befürchtungen hinsichtlich irgendwelcher Nachteile, sind zu groß. Schweigen wird (wieder) nicht belohnt – stattdessen hat man aus alten Opfern neue Opfer, an denen verdient werden kann, psychoökonomisch generiert. Weil man sicher ist: Wer einmal schweigt, schweigt wieder. Aber, ob immer geschwiegen wird, ist die Frage.
Kapitalismus – Capitalism
In Deutschland wurde eine Vielzahl von Amerikanismen bzw. Anglizismen eingeführt. So wollte uns zum Beispiel Christoph Keese, bis August 2005 Chefredakteur der Financial Times Deutschland, weismachen, Capitalism sei etwas völlig anderes als Kapitalismus und von der Wurzel her gut. Sein Credo: Rettet den Kapitalismus ! Lassen Sie mich dagegenhalten: Kapitalismus und gesteigert, Globalisierung, gleichfalls der neutraler verbal gehaltene „moderne“ Wettbewerb in der freien Marktwirtschaft besitzen zwei elementare Stränge: einerseits das abstrakte ökonomische System „Kapitalismus“ und andererseits Menschen, die dieses System begreifen, daran glauben, es verfeinern oder gar ausreizen, sprich auf die Spitze treiben, und schließlich umsetzen. Die einen treiben ihn mittels Gewinnsucht auf die Spitze und die anderen, in dem sie ihm bis zum Umfallen und bis in Krankheiten hinein treu sind. Alles im Kapitalismus ist nur so gut, wie Menschen „gut“ sind, die ihn betreiben und betreiben lassen. Der Kapitalismus als System kann gar nichts und ist gar nichts. Er ist eine Idee. Eine Idee lebt von Interessenten, die sie anpreisen und ihr Leben einhauchen.
Es ist aber nicht nur die Begeisterung für eine Idee, die Interessenten erzeugt, sondern, wie im Falle des Systems Kapitalismus , der Nutzen. Der Nutzen besteht in Vermehrung von Geld: Ein bestimmter Betrag Geldes, der zur Verfügung gestellt und Kapital geheißen wird, soll sich vermehren. Damit die Vermehrung geschieht, muss etwas Bewegung in den Haufen Geld, der mit spezifischen Vorstellungen oder Produkten gekoppelt wird, an denen Investoren verdienen wollen.
Für diese Bewegung, auch Arbeit genannt, sind Menschen, die definitiv nicht über Kapital , aber über Gesundheit, Kraft, Intelligenz und Kreativität verfügen, notwendig. Denn sie, die kapital- und besitzlosen Menschen, schaffen Werte, die Kapital vermehren. Insofern ist Kapitalismus ein sehr einfaches System: es muss dafür sorgen, dass die Kapitalinvestoren ihr Kapital einsetzen und vermehren.
Gleichzeitig ist dafür zu sorgen, dass kapitallose Menschen ohne nennenswertes Kapital bleiben. Minimaler monatlicher Verdienst, der viele Menschen nicht zu Kapital kommen lässt, ist leicht zu berechnen – und er wird in jeder Hinsicht und Dimension des Lebens ganz genau und gezielt kalkuliert. Sehr gut ist diese Berechnung 2010 durch die Bundesregierung aufgestellt und vielerorts diskutiert worden, was einem Menschen zum Überleben zugestanden wird.
Ministerin von der Leyen bezieht sich auf diese statistischen Werte, um Hartz-IV-Bezüge festzulegen. Analog ist dieses Berechnungssystem auch für die arbeitende Bevölkerung zu denken. Das geniale kapitalistische Wirtschaftssystem ist für jeden Menschen frei kommunizierbar und die passende Politik demokratisch dazu wählbar. Mythen vom Tellerwäscher zum Millionär tauchen hier und da immer wieder auf, um die Laune und die Hoffnung der arbeitenden und nun zusätzlich der arbeitslosen Bevölkerung zu bewahren, um weiterhin eine hohe Identifikation mit diesem Wirtschaftssystem zu bezeugen. Neue Ideen bewegen sich innerhalb desselben.
Glücksvorstellungen werden über Lotterien und Schnäppchen unterhalten. Um aber auch noch das Gegenteil zu belegen, das Geld nicht alles ist, werden alle Jahre wieder Menschen, die in der Lotterie viel Geld gewonnen haben in Funk und Fernsehen interviewt. Sie teilen mit, sie hätten nun kein Geld mehr, seien um eine Erfahrung reicher, und nun bescheiden, zusätzlich völlig anderen Sinnes geworden. Reiche wie arme Menschen haben diesbezüglich ihre Erfahrungen gemacht, wenn auch auf völlig anderem Boden und in anderer Hinsicht. Irgendwann dämmert es in ihnen, das Geld nicht alles ist.
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