BKA-Präsident Jörg Ziercke will nun selbst forschen – und kommt zu ähnlichen Zahlen. Auch Paul Dickopf, „der das BKA mitkonzipiert hatte und von 1965 bis 1971 dessen Präsident war“ zählt zu den früheren SS-Führern. Harms: „ Aus Schenks Sicht war er nicht unbedingt ein eingefleischter Nazi, sondern ein deutschnationaler Karrierist, der bevorzugt alte Kameraden aus seiner Lehrzeit an der, Führerschule der Sicherheitspolizei’ um sich scharte.“ (ebd.)
Nun das Entscheidende: Für Schenk war Dickopf’s Einfluss noch drei Jahrzehnte nach dessen Ausscheiden zu spüren, „in der Halbherzigkeit, mit der Rechtsradikalismus, Antisemitismus und Fremdenfeindlichkeit bekämpft werden“. (WR, ebd.)
Die historischen Befunde und personelle Kontinuitäten sind nicht umstritten. Aber, ob alte Methoden, alte Vorstellungen aus der Hitlerzeit hinsichtlich Kriminalität weiterhin wirkten „und ihr altes Berufsverständnis“ weiter pflegten, ist von Interesse. (WR. 10.8.2007)
Natürlich waren durch das Kriegsende keine neuen Menschen in Deutschland – es waren die gleichen wie unter Hitler. Natürlich bestand der Zwang, Deutschland wieder aufzubauen. Mit eben diesen Menschen, die bereits unter Hitler gelebt oder besser überlebt hatten. Die breite Bevölkerung konnte zusehen, wie diejenigen, die unter Hitler Positionen hatten, nun auch in der Demokratie wieder das Sagen hatten. Fraglich ist, wie sie ihre neue Position ausfüllten. Wie es zu bewerkstelligen ist, von einem Tag auf den anderen, ein Mensch mit völlig neuer politischer Anschauung zu werden und gemäß der neuen Leitlinien zu leben und zu arbeiten – das allerdings ist psychoanalytisch und psychotherapeutisch von höchstem Interesse. Diese Perspektive fand bei der Betrachtung der sozial-politischen Aufarbeitung kaum Beachtung. Dies betrifft sowohl diejenigen, die wieder in Leitungsfunktionen arbeiteten – aber es betrifft insbesondere diejenigen, die zur breiten Masse zählten. Denn sie erlebten in der Windeseile des Aufbaues der Demokratie, wie ihre emotionalen Wunden (sowohl der generellen Kriegstraumata, wie zusätzlich, bezüglich ihrer persönlichen Verluste von Haus, Hof und Menschen) völlig in den Hintergrund zu treten hatten. Wo ist diese Lebensgeschichte geblieben? Wo, die emotionale Erfahrung dieses Lebens unter Hitler? Man war geschäftig und beschäftigt mit dem Aufbau. Obenauf mussten Menschen erleben, dass diejenigen, vor denen sie sich auch in der Hitlerzeit verbeugten oder vor denen sie Angst hatten, nun wieder über ihnen standen und sagten, wo es lang ging und zu gehen hatte. Es gab doch keine persönlichen Gespräche unter den Deutschen diesbezüglich? Oder doch? Der Polizist, der unter Hitler gearbeitet hatte, ging doch nicht reumütig durch sein Stadtviertel und entschuldigte sich bei den ihm bekannten Menschen, die er verraten hatte und vielleicht nun doch noch leb(t)en, für sein Verhalten! Nein, wenn dies der Fall gewesen sein sollte, wäre es eher als eine pathologische Reaktion, als eine fehlende Anpassung an die neuen Umstände gewertet worden. Eher war da doch ein stilles, einvernehmliches Schweigen verbindend, das darauf aufbaute, irgendwann dann vielleicht doch noch mal, dieses Band zu anderen Mitschweigern brauchen zu können – aber diesen Gedanken möchte ich hier jetzt nicht vertiefen, der sowohl in der breiten Bevölkerung, als auch in den alten und neuen Führungsetagen, eine Rolle gespielt haben mag.
Festzuhalten gilt es hier die verschiedenen Formen des Schweigens mit Vor- und Nachteilen auf der Beziehungsebene, die zu unterschiedlichen Zwecken benutzt werden konnten. Ich weiß noch, wie beide meiner Großväter immer wieder erzählten, „der hat damals schon in der Hitlerzeit …“, und immer schwang ein Gefühl von geschehenem Unrecht im Unterton mit. Es war ein Groll untergemischt, der darauf verwies, dass es so, wie es jetzt (also damals, als ich es als Kind von ihnen erzählt bekam) ist, nicht in Ordnung ist. Dieses Gefühl trifft man auch heute an, spricht man mit Menschen, die Hitlerzeit und Nachkriegsdeutschland und die Gegenwart erlebten. Diesen kurzen Statements ist emotionale Kunde der deutschen Aufarbeitung in einem nicht zu akzeptierenden Ist- und Kurz-Zustand zu entnehmen. Es ist ein unbestimmtes Gemisch aus Groll, Vereitelung anderer und unbenannt bleibender Vorstellungen, Enttäuschungen, Scham über nicht erfolgte Konfrontation. Hilflosigkeit aufgrund fehlender Macht, Einfluss auf eine Korrektur nehmen zu können, die notwendig hätte stattfinden müssen. Es folgte ein sich Abfinden mit dem, wie und was der Fall ist. Übrig bleibt Enttäuschung und Groll – Menschen gehen diesbezüglich emotional weder entschieden in die Enttäuschung, in der erzählt und gefühlt werden könnte, was genau immer noch so weh tut. Noch geht es in den Groll, der Wut und Hass auf die Umstände während der Hitlerzeit in den persönlichen Bedeutungen und Erlebnissen fühlbar und deutlich werden lassen könnte – der Verrat selbst darf nicht benannt werden. Ebenso wenig wie die Fortführung des Verrats durch personelle Kontinuität nach dem Krieg, wie Dieter Schenk es für das BKA aufzeigt oder Kurt Blüchel für die Kassenärztliche Vereinigung (2003).
Vergegenwärtigt man sich diese Perspektive des Miteinanders der Menschen im Nachkriegsdeutschland, dann kann man sich zumindest eine kleine emotionale Probe dessen verschaffen, wie Menschen damals in inneren Konflikten langsam versackten und versandeten, weil sie wieder in die Hilflosigkeit hinein gerieten, nichts sagen zu können: Weil zum einen die Schuld, nicht gekämpft und aufbegehrt zu haben gegen die Hitlerideologie oder das sich mit ihr identifiziert zu haben und mitgemacht zu haben – wenn auch nicht aktiv als Täter – schwer auf der Seele lag. Anbetracht dieser Realität gab es nur den Ausweg: Wieder mitmachen. Man landete in Deutschland auf einer neuen Ebene kollektiven Schweigens in einer Nachkriegs-Verschworenengemeinschaft, die aufgrund des stillen Einvernehmens wieder Kraft schöpfte – natürlich in der Hoffnung, dass dieses Bündnis sich auszahlt und Vorteile bringt. Diese erfüllten sich aber für die breite Masse nicht. Für Teile der alten Gefolgschaft während der Hitlerzeit schon, wie man nachlesen kann.
Psychisch bestand aufgrund dessen die neue deutsche und unausgesprochene Vereinbarung: Nichts sehen, nichts hören, nicht sprechen – schweigen über das Nichts. Noch einmal ein Stück Opferung der Lebenskraft und Lebensenergie vor dem Hintergrund der ohnehin extrem belastenden Erfahrungen in der Hitlergesellschaft, persönlichen Traumatisierungen und Schweigen über das Erfahrene und Erlebte. Fehlende Anleitung zur psychischen Aufarbeitung – und dann das gleiche Vorgehen in der Nachkriegszeit bis heute: Aber der Groll ist geblieben.
Ebenso muss es politisch von Interesse sein, mit Blick auf die Gegenwart, wie die Deutschen gegenwärtig die politische Entscheidung zur Verarmung und Vermehrung der Armenzahlen erleben: Als einen erneuten Verrat? Dieses Deutschland mit aufgebaut und nichts davon gehabt zu haben? Wer schweigt, wird in der Regel belohnt für sein Schweigen. In diesem Falle aber nicht – oder? Diejenigen, die für ihr Schweigen belohnt wurden und werden, melden sich mit Sicherheit nicht freiwillig.
Das Schweigen, die Scham, die Traumatisierung sind Faktoren, die in jedem einzelnen Menschen in unterschiedlicher Form wie die Karten eines Kartenspiels gemischt sind. Man kann die Vielfalt der Schichten dieses psychischen Erlebens nicht eindeutig hinsichtlich ihres Wirkens in eine Richtung festlegen und sagen: So war es. Nein, vielmehr ist die Tatsache des immer noch hörbaren Schweigens der generell fehlenden emotionalen Aufarbeitung, egal in welcher Stärke und Kombination die Faktoren verteilt sind, bedenklich. Dieser immens wichtige und fehlende Teil in jedem Menschen fehlt in ganz Deutschland und spiegelt sich meiner Auffassung nach darin, das Verantwortung gerne, egal ob Oben oder Unten und egal in welcher Form, verschoben wird auf andere.
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