Humboldts Empfindung, durch körperliche Anstrengung erheitert zu werden, könnte man heutzutage mit dem viel zitierten „Runner’s High“ gleichsetzen oder einfach auch nur mit der Floskel „Freude an Bewegung“. Dass Humboldt die oftmals strapaziösen und entbehrungsreichen Wanderungen, die teilweise Monate dauerten, nicht nur als Mittel zum Zweck, der Erforschung unbekannter Regionen, ansah, lässt vielleicht manchen in unserer heutigen, so zivilisierten Welt erstaunen. Ohne diese Freude an der Bewegung hätte der deutsche Gelehrte seine fast drei Jahre andauernde Expedition durch Südamerika wohl kaum unternommen. Im Endeffekt hatte Humboldt an einem mehrwöchigen Ultra-Wettkampf teilgenommen, der ihn durch Wüstenregionen und zu den höchsten Andengipfeln geführt hatte. So hatte er z. B. im Sommer und Herbst 1800 in knapp fünf Monaten 2.775 Kilometer (teilweise zu Fuß, teilweise mit dem Boot) zurückgelegt. Dabei musste er sich im Dschungel, im Gebirge und in Wüsten orientieren, seinen Proviant für mehrere Wochen transportieren und wusste tagsüber oftmals nicht, wo und wie sie übernachten sollten. Ganz zu schweigen von den Krankheiten, den wilden Tieren und den hygienischen Bedingungen, denen die Expeditionsteilnehmer ausgesetzt waren. Hier gab es keine Kontrollpunkte, an denen man sich zwischendurch verpflegen hätte können. Es konnte mehrere Tage dauern, bis sie wieder auf ein Dorf oder eine Mission trafen, bis dahin waren Humboldt und seine Gefährten auf sich alleine gestellt. Obwohl diese physischen und psychologischen Strapazen nicht schon anstrengend genug gewesen wären, wurde Humboldt nicht müde, Tag für Tag unzählige Messungen durchzunehmen, Beobachtungen zu notieren und Briefe zu schreiben. Er schien über schier unerschöpfliche Energiereserven zu verfügen, denn wie sonst hätte man einen solchen Lebensstil über mehrere Jahre überstehen können. Humboldt war bekannt dafür, mit sehr wenig Schlaf auszukommen. Während seine Begleiter des Öfteren an Fieber erkrankten und die Expedition deswegen gezwungen war, die Reise zu unterbrechen, blieb Humboldt meist verschont. Sein Immunsystem und seine körperliche Verfassung mussten außergewöhnlich robust gewesen sein. Am meisten Spaß bereitete ihm die Besteigung von Bergen und Vulkanen. Dabei ging es ihm nicht nur um die körperlichen Herausforderungen oder die Aussicht auf neues Wissen. Berge bezauberten Humboldt, so zumindest die Biografin. „Da war noch ein eher metaphysischer Aspekt. Jedes Mal, wenn er auf einem Gipfel oder einem hohen Bergkamm stand, war er so hingerissen von dem Ausblick, dass seine Fantasie ihn noch höher hinauftrug.“ „Sie linderten“, so sagte er, „die tiefen Wunden, die die reine Vernunft manchmal schlug. “ In diesen Worten wird sich sehr wahrscheinlich der ein oder andere Läufer wiederfinden, sicherlich auch der ein oder andere Wanderer, den es am Wochenende regelmäßig in die Berge zieht. Die Faszination Trailrunning, die gerade die Laufszene erobert, scheint hier erklärt zu werden. Warum sonst schießen aktuell die Trail-Events geradezu aus dem Boden. Nahezu jede Gemeinde in den Alpen scheint mittlerweile einen eigenen Trail-Wettkampf zu veranstalten, wobei in den Ausschreibungen oftmals gar nicht der Sieg oder der Wettkampf in den Mittelpunkt gerückt wird, sondern das Erlebnis an sich. Für Humboldt ging es ebenfalls nicht um den Sieg, auch wenn er als Erster viele Gipfel erklommen hatte und damals als einer der erfahrensten Bergsteiger der Welt galt. Für ihn war neben dem Erkenntnisgewinn, der ihm extrem wichtig war, die Naturerfahrung an sich von fast genauso großer Bedeutung. Wie sonst ließe sich sein Ausspruch „ Sie linderten die tiefen Wunden, die die reine Vernunft manchmal schlug “ erklären? Mit „sie“ meinte er die Berge. Mit den tiefen Wunden, die die reine Vernunft schlugen, meinte er wohl die von außen auferlegten Konventionen, denen sich auch ein Freigeist wie Humboldt teilweise beugen musste. So hatte er z. B. trotz seines anfänglich riesigen Vermögens, das ihm seine verstorbene Mutter hinterlassen hatte, im Laufe seines Lebens die eine oder andere Stelle annehmen müssen, um finanziell über die Runden zu kommen. Gesellschaftliche und politische Entwicklungen (Deutsch-Französischer Krieg,…) zwangen ihn außerdem oftmals zu Planänderungen, vor allem was seine Expeditionen in fremde Länder anbelangte. Diese reinen Vernunftentscheidungen kennen wir alle. Wie gerne würden wir vielleicht an einem herrlichen Sommermorgen lieber in die Berge fahren als zu unserem Schreibtisch im Mehrraum-Büro. Doch unser Gewissen, geleitet von Vernunft und gewissermaßen von den gesellschaftlichen Verpflichtungen determiniert, lässt uns an der Kreuzung in Richtung Arbeit abbiegen, anstatt den Blinker in Richtung Berge zu setzen. Wenn das liebe Geld nicht wäre, würden wahrscheinlich viele von uns sofort auf Teilzeit umstellen und sich auf Reisen in fremde Länder begeben. Würden sich an der Natur, vor allem an den Bergregionen dieser Welt erfreuen, man würde sein Leben noch mehr nach seinen Wünschen gestalten. Für Humboldt bedeuteten Berge Freiheit, viele Trailläufer empfinden wahrscheinlich ebenso.
Es würde zu weit führen, wenn ich alle Parallelen zwischen Humboldt und mir bzw. Humboldt und Laufenthusiasten hier jetzt aufzählen würde. Irgendwie schien dieser Universalgelehrte, der ebenso gut als Dichter und Denker seinen Platz in der Geschichte der Menschheit hätte einnehmen können, der erste Wissenschaftler gewesen zu sein, der eine Verbindung zwischen Bewegung, Naturerfahrung und Gemütsverfassung herstellen konnte. In den Jahrzehnten vor Humboldt hatten Wissenschaftler nach streng aufklärerischer Art und Weise gearbeitet. Empirie war alles. Man beobachtete, maß und versuchte alles objektiv zu erfassen. Nur das, was man messen und objektiv erfassen konnte, durfte in wissenschaftliche Abhandlungen fließen. Auch Humboldt war mit den aufklärerischen Idealen aufgewachsen, doch seine Schilderungen über den südamerikanischen Kontinent verband er mit subjektiven Empfindungen. In seinen Reiseberichten schilderte er seine Beobachtungen und verhalf den interessierten Lesern in aller Welt zu wahren Erkenntnissprüngen. Ein Großteil seiner Popularität war seinen subjektiven Eindrücken zu verdanken, die er miteinfließen ließ. Auch hier lässt sich ein Vergleich zu heutigen Beobachtungen ziehen. Erfolgreiche Trail- oder Ultraläufer verdienen einen Großteil ihres Lebensunterhalts dank großartig in Szene gesetzter Abenteuer. Die Bilder und Videos von diesen Läufern erzeugen beim Betrachter ein Gefühl der Sehnsucht. Sie wollen selbst diese Erfahrung machen. Das Ansehen der Fotos und Videos ist sozusagen eine Ersatzbefriedigung dafür, dass man gerade selbst nicht in den Bergen unterwegs sein kann.
Vielleicht werden einige von Ihnen nun denken, dass jeder halbwegs begeisterte Läufer diesen Zusammenhang zwischen Humboldt und den Trailläufern der heutigen Zeit hergestellt hätte. Vielleicht denken aber auch einige von Ihnen, wie man nur auf diese abwegige Verbindung kommt. Wie auch immer, ich fragte mich, ob sich mein Leben nicht zu sehr um das Laufen dreht. Bin ich zu sehr fixiert auf die natürlichste menschliche Bewegung? Bin ich ein Laufjunkie, der versucht, alles in seinem Leben mit dem Laufsport in Bezug zu setzen? Spontan würde ich darauf mit „Nein“ antworten, denn ich bin niemand, der versucht, Nichtläufer zu Läufern zu bekehren. Ganz im Gegenteil: Mit Leuten, die nichts mit dem Laufsport am Hut haben, unterhalte ich mich über Gott und die Welt, komme aber fast nie auf das Thema Laufen zu sprechen. Es sei denn natürlich, ich werde direkt darauf angesprochen. Falls schon, beschränke ich meist auf das Nötigste und schweife nicht allzu sehr aus. Anders verhält es sich natürlich, wenn ich mit Lauffreunden spreche, dann verliere ich mich nicht selten in minutenlangen Ausführungen und beziehe mein ganzes (Fach?-) Wissen in die Gespräche mit ein. Meine Arbeitsstelle, die Realschule Peißenberg, ist hingegen so etwas wie eine lauffreie Zone. Natürlich wissen alle meine Kollegen und meine Schüler von meiner Laufbegeisterung, schließlich wird oft genug von mir in der Tageszeitung berichtet. Aber in der Regel kreisen meine Gespräche um schulische Themen. Selbst im Sportunterricht berücksichtige ich das ausdauernde Laufen bzw. die Leichtathletik nicht mehr als meine Sportkolleginnen und Sportkollegen. Allerdings, so musste ich mit einer gewissen Überraschung feststellen, scheine ich im Deutschunterricht das Laufen zumindest teilweise mehr zu thematisieren als mir bislang bewusst war.
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