Wir starteten langsam und liefen gemeinsam in die einsetzende Dunkelheit. Man konnte gerade soeben die Silhouette des Herzogstandes, der Benediktenwand, des Jochbergs und des Heimgartens erkennen. In der Ferne leuchteten die Rohre des Walchenseekraftwerks sowie die Lichter der beiden Dörfer am Fuße der Benediktenwand, Benediktbeuern und Bichl. Wir pendelten uns bei einem Kilometerschnitt von 5:30 Minuten ein und unterhielten uns über die Ereignisse des Tages. Keiner von uns kam auf das Tempo zu sprechen. Mit zunehmender Dauer wurden wir etwas schneller, das Tempo sank aber zu keinem Zeitpunkt unter die 5-Minuten-Marke. Gegen Ende des Dauerlaufs musste ich mich teilweise wirklich zurückhalten, um nicht in meinen gewohnten Laufschritt zu verfallen. Zeitweise hatte ich sogar das Gefühl, gleich gehen zu müssen, derart ungewohnt war das Tempo für mich. So langsam war ich, zumindest über eine solch lange Strecke, seit Jahren nicht mehr gelaufen. Da es wieder ziemlich kalt war, in etwa um den Gefrierpunkt herum, wurde ich zudem nicht wirklich warm, meine Muskeln und Gelenke blieben steif. Das Laufen fühlte sich extrem ungelenk an, als ob ich zum ersten Mal diese Bewegungsart ausführen würde. Diese „Art“ von Laufen fühlte sich irgendwie nicht wie Laufen an, sondern eher wie „Gehen mit Flugphase“. So mussten sich Ultraläufer fühlen, dachte ich mir sofort. Stundenlang in einem sehr, sehr langsamen Tempo zu laufen, das war doch Ultralaufen. Ich rechnete kurz nach. 24 Stunden in diesem Tempo wären ca. 260 Kilometer, ein sehr, sehr guter Wert für Ultraläufer. Ich konnte mir beim besten Willen nicht vorstellen, wie man solch ein Tempo so lange durchhalten könnte. Meine Oberschenkel waren bereits nach 45 Minuten erstaunlich müde, mein Herzkreislaufsystem war natürlich in keiner Weise ausgelastet. Am Ende unseres Dauerlaufs war es dann Conny, die ein wenig das Tempo erhöhte, sodass ich aus meinem Schlappschritt ausbrechen konnte. Nach dem Lauf begründete sie ihre leichte Tempoverschärfung mit den gleichen Gedanken wie ich sie hatte. Auch für sie war das Tempo ungewohnt langsam, ihre Muskulatur war nicht richtig warm geworden, das Laufen fühlte sich nicht „richtig“ an. Bei Conny führte dieses ungewohnte Tempo sogar zu einem leichten Muskelkater, meine Beine waren am nächsten Tag toperholt. Das mussten sie auch sein, denn der letzte Härtetest vor den bayerischen Crosslaufmeisterschaften stand auf dem Plan, gemeinsam mit Lucas und Nick.
Dienstagabend, 18:35 Uhr. Penzberg, Stadion an der Karl-Wald-Straße. 1 °C. „Vor. Zurück. Ab!“ Wir starten zu unserem letzten Tempolauftraining vor den bayerischen Meisterschaften: 1.000 m, 500 m, 500 m, 1.000 m, 500 m, 500 m. Pausendauer: zwei Minuten. Lucas, Nick und ich laufen los, die beiden Jungspunde vornweg, ich hinterher. Lucas ist wieder fit, Nick von seinem Kaderlehrgang wieder erholt, ich selbst fühle mich großartig, meine Beine sind leicht wie eine Feder. Kein Wunder also, dass wir viel zu schnell unterwegs sind. Wir müssen uns einbremsen, um es nicht zu übertreiben. Die ersten drei Läufe sind mit 3:12, 1:26 und 1:30 Minuten einigermaßen im Rahmen, bei den letzten drei können wir uns kaum zurückhalten. Die Muskeln strotzen vor Kraft, wir steigern uns in das Training hinein. 3:03 Minuten zeigt die Uhr beim zweiten 1.000er, 1:25 Minuten beim vorletzten 500er. Mittlerweile ist auch Stephan im Stadion, der Vater von Nick und ehemalige deutsche Spitzenläufer. Als wir nach dem zweiten 1.000-Meter-Lauf stehen bleiben, kommt er zu uns und fragt seinen Sohn, ob denn zwei Minuten Pause zwischen den 500-Meter-Intervallen nicht zu lang seien. Eine Minute sei schließlich völlig ausreichend. Ich stimme Stephan zu, der sogleich hinzufügt, dass zwei Minuten Pause nach einem 1.000er in Ordnung seien, aber doch nicht nach einem 500er. Also beschließen wir kurzerhand, uns vor dem letzten 500-Meter-Intervall nur eine Minute Pause zu gönnen. Wer jetzt meint, die verkürzte Pause hätte dazu geführt, dass wir den letzten Lauf langsamer machen würden, hatte die Rechnung ohne Nick und Lucas gemacht. Kaum waren die 60 Sekunden Stillstand vorüber, preschten die beiden auch schon in einem irrsinnigen Tempo los. Ich lief hinter den beiden her und rief ihnen zu, sie sollten es nicht übertreiben. Die beiden bremsten sich etwas ein, doch auf den letzten 200 Metern nahmen sie wieder an Fahrt auf. Kontrolliert, aber zügig, beendeten wir das letzte Intervall nach 1:22 Minuten, einer vor allem für mich herausragenden Zeit. Seit mehr als zwei Jahren war ich nicht mehr so schnell gewesen, wobei sich meine Beine immer noch frisch und fit anfühlten. Auch die beiden anderen bekundeten beim Auslaufen mir gegenüber, dass diese Einheit erstaunlich locker war. Die bayerischen Crosslaufmeisterschaften konnten also kommen.
Den Sprint zu früh angezogen – Bayerische Cross
Bayerische Crosslaufmeisterschaft in Kemmern am 19.02.2017
2. Platz in der M35 über 7,5 km in 25:23 Minuten / 11. Platz bei den Männer über 3,75 km in 11:56 Minuten / 4. Platz im Team
7:15 Uhr am Pendlerparkplatz an der Autobahn A95 Ausfahrt Wolfratshausen. Meine Frau und ich holen Klaus Mannweiler ab, einen alten Laufbekannten, mit dem wir gemeinsam zur bayerischen Crosslaufmeisterschaft nach Kemmern bei Bamberg aufbrechen. Ich hatte Klaus seit einem halben Jahr nicht mehr gesehen. Auf der fast dreistündigen Fahrt durch das nahezu komplett in Nebel eingehüllte Bayern erzählte er stolz von seinem Marathonauftritt in Bad Füssing, bei dem er mit 2:37 Stunden im Gesamtklassement Dritter wurde. Klaus ist 52 Jahre alt und hat in seiner Karriere schon zahlreiche bayerische und deutsche Meistertitel in diversen Altersklassen bei Straßenläufen gewonnen. Der Marathon in der Thermenstadt lag gerade einmal zwei Wochen zurück, und schon fühlte er sich wieder fit für die nächste Herausforderung. Nie zuvor hatte er an einem Crosslauf teilgenommen, betrat also absolutes Neuland. Er hatte sich sogar extra Spikes von einem Lauffreund ausgeliehen. Auf der Fahrt entlang der A9 und der A73 bemerkte ich seine Unsicherheit, da er nicht wusste, wie er das Rennen gestalten sollte. Viele seiner Konkurrenten kannte er nicht, darüber hinaus konnte er nicht einschätzen, wie er auf dem Wiesenuntergrund zurecht kommen würde. Ich kann gleich vorwegnehmen, dass er außerordentlich gut zurechtkam und dem gesamten Teilnehmerfeld der Altersklasse M50 schnell davonzog um mit mehr als 150 Metern Vorsprung über die Distanz von 6,25 km zu gewinnen. Die sehr abwechslungsreiche und zuschauerfreundliche Wiesenrunde war 1,25 Kilometer lang, enthielt drei Senken und einen künstlich aufgeschütteten Anstieg. Dieser aus Erde und Sand aufgeschüttete Hügel überwand auf 20 Metern Länge ungefähr vier Höhenmeter, hatte an seiner steilsten Stelle bergauf mehr als 20 % Steigung und war auf der bergab führenden Seite sehr matschig. Um das Ganze obendrein anspruchsvoller und abwechslungsreicher zu gestalten, hatten die Veranstalter außerdem zwei Reihen Strohballen, die ungefähr 50 Zentimeter hoch waren, auf die Strecke gelegt. In meinem ersten Lauf um 12:20 Uhr, also nur wenige Minuten, nachdem Klaus souverän gewonnen hatte, war ich an der Reihe.
Im Vorfeld der Veranstaltung wurde ich auf der Homepage des Bayerischen Leichtathletikverbandes als der uneingeschränkte Favorit für den Lauf der Altersklasse M35 – M45 angekündigt. Kurz vor dem Lauf kam der Autor dieses Artikels auf mich zu und fragte mich nach meinem Befinden und wie meine Renntaktik aussähe. Ich antwortete ihm, dass ich mich gut fühlte und davon ausgehe, dass ich das Rennen für mich entscheiden müsste, da die anderen starken bayerischen Läufer nicht am Start waren. Ich teilte ihm außerdem mit, dass ich zweieinhalb Stunden später im Mittelstreckenrennen der Männer erneut an den Start gehen würde um mit dem Team eventuell eine Medaille zu gewinnen. Deshalb empfahl er mir, einfach im Feld mitzulaufen und die Entscheidung auf der letzten Runde zu suchen. Dieser Taktik konnte ich nur zustimmen, und versicherte ihm, das so umzusetzen, wobei sie auch beinahe funktioniert hätte. Gleich nach dem Startschuss um 12:20 Uhr positionierte ich mich im Spitzenfeld und ließ erst einmal die anderen im Wind laufen. Nach der ersten von sechs Runden hatte ich mich auf den 2. Platz nach vorne gelaufen und folgte dem gleichmäßigen Tempo des Führenden. Das Tempo fühlte sich nicht so locker wie erwartet an, wobei wir mit ungefähr 3:32 Minuten pro Kilometer liefen. Ich hatte kalte Hände und Füße. Leider hatte ich mich nur drei Kilometer warmgelaufen, weil ich meine Beine für den Mittelstreckenlauf der Männer schonen wollte. Da es in Kemmern immer noch neblig und mit 0 °C erstaunlich kühl war, war ich nicht richtig warm geworden. Vor dem Start hatte ich das nicht als Problem erachtet, da ich davon ausging, dass keine ernstzunehmende Konkurrenz am Start sein würde und ich sowieso locker gewinnen würde. Diese Naivität, man könnte auch sagen, meine Überheblichkeit, sollte sich wenige Meter vor dem Ziel rächen. Im Verlauf des Rennens wurde die Gruppe kleiner und zu Beginn der letzten Runde waren wir zu viert. Die vorletzte Senke rückte näher und einer meiner Konkurrenten beschleunigte. Ich konnte dem Tempo folgen, genauso wie Edwin Singer, die anderen Läufer waren bereits zurückgefallen. Als es dann bergab in die Senke ging, konnte ich nicht mehr warten. Ich drückte sprichwörtlich das Gaspedal bis zum Bodenblech durch und lief den Gegenanstieg so schnell ich konnte hinauf. Ruckzuck hatte ich zehn Meter Vorsprung, aber noch waren 600 Meter zu laufen. Ich merkte, dass meine Beine bereits jetzt fast am Limit waren. Sie wurden blauer und blauer, also schwerer und schwerer. Trotzdem hielt ich mein Tempo. Leider wurde auch Edwin Singer nicht langsamer, der Vorsprung bzw. der Rückstand änderte sich nicht. Ich hoffte inständig darauf, dass mein Kontrahent, der mir zu diesem Zeitpunkt völlig unbekannt war, nachlassen würde. 200 Meter vor dem Ziel spürte ich förmlich seinen heißen Atem in meinem Nacken. Vor der letzten Kurve hatte ich bereits den Glauben an den Sieg aufgegeben, da meine Beine völlig kraftlos und bleiern waren und er schon neben mir auftauchte. Obwohl ich alle Kräfte mobilisierte, wurden meine Schritte kürzer und kürzer, die Schrittfrequenz blieb identisch. Enttäuscht erreichte ich als Zweiter das Ziel, die Titelverteidigung war mir nicht gelungen. Sofort ratterte es in meinem Kopf. Hatte ich mich zu wenig aufgewärmt? War die Renntaktik falsch? Hätte ich früher die Führung übernehmen und für ein höheres Tempo sorgen sollen? Hätte ich mit dem Schlussspurt bis kurz vor dem Ziel warten sollen? War ich doch nicht so fit, wie ich glaubte? Wer hat mich da gerade geschlagen? Die letzte Frage war die interessanteste, denn wenn mein Konkurrent eindeutig stärker als ich wäre, dann wären sämtliche andere Fragen bedeutungslos. Dann wäre es völlig gleichgültig gewesen, wie ich das Rennen gestaltet hätte.
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