Humboldt und Klassenlektüren - Bin ich zu sehr aufs Laufen fixiert?
In den vergangenen Wochen hatte ich mich nicht nur intensiv mit Ultraläufen und dem Laufen allgemein beschäftigt, sondern eine neue Leidenschaft für mich (wieder-) entdeckt. Ich verschlang Unmengen an Büchern und Zeitschriften. Dabei faszinierten mich nicht nur Lauf- und Ernährungsratgeber, sondern immer mehr auch geschichtliche und wissenschaftliche Themen. Ich nutzte jede freie Minute um zu lesen. Bei meinen täglichen, knapp 30 Minuten andauernden Fahrten zu meiner Arbeitsstelle lauschte ich Hörbüchern, zusätzlich las ich mit meinen Schülern in den verschiedenen Klassen mehrere Lektüren. Die Hörbücher, die ich im Januar hörte, beschäftigten sich mit den Anfängen und der Entwicklung des Universums, wobei hier neben den oftmals rein wissenschaftlichen Aspekten die philosophischen Ansätze ebenfalls zur Sprache kamen. Vom Urknall, den Elementarteilchen, den elementaren Kräften, der Bildung der Galaxien, vom Sonnensystem und den Planeten bis hin zur Entwicklung des Lebens auf der Erde berichteten z. B. Stephen Hawking oder Harald Lesch, wobei auch Philosophen wie Ptolemäus oder Wissenschaftler wie Aristoteles, Galilei, Kopernikus, Kepler, Newton und Einstein nicht unerwähnt blieben. Harald Lesch kümmerte sich außerdem um die Entwicklung des Menschen, beginnend bei der Ursuppe bis hin zu den ersten Säugetieren. Der Mensch als bisherige Spitze der Entwicklung, der seine Intelligenz mitunter dem aufrechten Gang und seiner überragenden Ausdauer zu verdanken hat, wurde von Lesch ebenso wie thematisiert wie die Rolle eines möglichen Schöpfers. Auch wenn dieser nach quantenmechanischen Vorstellungen nicht zwingend notwendig sei, um die Singularität des Urknalls zu erklären. Dass der Mensch mitunter das ausdauerndste Tier der Welt ist, ist nicht erst seit Christopher McDougalls Ausführungen in „Born to run“ bekannt, auch Lesch greift die besondere Gabe des homo sapiens auf. Diese in tausenden Jahren erworbene Fähigkeit ermöglichte es nämlich unseren Vorfahren, Wildtiere bis zur totalen Erschöpfung zu jagen, sodass diese Tod zusammenbrachen. Diese Fähigkeit garantierte dem Menschen eine stetige Eiweißzufuhr, die erst die Entwicklung unseres Gehirns ermöglichte.
Ich lauschte diesen Hörbüchern mit großer Freude und konnte es kaum erwarten, mir ein neues Hörbuch herunterzuladen. So stöberte ich in der digitalen Bibliothek und überlegte, für welches Werk ich bereit war 9,99 Euro auszugeben. Da es nur sehr wenige Bücher zum Thema Laufen als Hörbücher gibt, und die, die in vertonter Form vorliegen, mich nicht interessierten, riskierte ich einen Blick in die Empfehlungen des Online-Händlers. Diese wurden aufgrund meiner bisherigen Bücher- und Hörbücherkäufe erstellt. Bereits die zweite Empfehlung machte mich neugierig. Eine 15-stündige Reise durch das Leben des Alexander von Humboldt. Zwei Wochen zuvor hatte ich im Radio ein Interview mit der Autorin dieses Buches gehört und war sogleich von der Person Humboldt fasziniert. Vor allem seine Begeisterung für die Natur und seine Ansichten einer ganzheitlichen Betrachtungsweise von Flora und Fauna, sowie die Verbindung der menschlichen Psyche und Empfindsamkeit mit dem Erleben von Wildnis und unberührter Landschaften interessierte mich. Alexander von Humboldt, ein Abenteurer, ein Universalgenie, ein Entdecker, wer war dieser Mensch, was hatte er in seinem Leben gemacht, welche Errungenschaften hatten wir ihm zu verdanken? Alle diese Fragen hatte ich mir gestellt, als ich der Autorin zugehört hatte, als sie von ihm geschwärmt hatte. Ich musste nur kurz überlegen und lud mir Mitte Februar das Hörbuch auf mein Smartphone herunter. Bereits die ersten Minuten des Hörbuchs fesselten mich, denn diese handelten von der Besteigung des Chimborasso, des damals höchsten bekannten Berges der Welt. Humboldt hatte sich mit seinem Begleiter Bonpland bis auf etwa 5.600 Meter nach oben gekämpft, als sie von einer unüberwindbaren Gletscherspalte gestoppt wurden, die ihnen den Aufstieg zum Gipfel des 6.310 m hohen Vulkans unmöglich machte. Humboldt hatte trotz der Strapazen des Aufstiegs zahlreiche Messinstrumente durch Schnee und Eis mitgenommen und konnte mit Hilfe dieser die exakte Höhe bestimmen. Trotz ihres Scheiterns war bislang kein Mensch weiter vom Erdboden entfernt gewesen als diese Expedition. Dieser Höhenweltrekord für Bergsteiger sollte 30 Jahre Bestand haben. Die Schilderung dieses waghalsigen Unterfangens erweckte in mir sofort die Frage, warum sich Humboldt in solch eine Situation gewagt hatte. War es einfach nur der im Menschen verankerte Entdeckerdrang? War es die Sehnsucht nach Abenteuer? War es die Flucht vor der zivilisierten Welt? War es vielleicht sogar gewissermaßen eine Flucht von sich selbst? Wollte er sich in solchen Extremsituationen selbst finden? Die Antworten auf diese Fragen sollte ich beim Hören der Biografie nach und nach präsentiert bekommen.
Ich war überrascht, als ich Humboldts Worte hörte, die der Erzähler aus Briefen, die Humboldt an Freunde und Bekannte geschrieben hatte, vorlas. Anscheinend handelte Humboldt, der zu Lebzeiten als bekanntester Mensch der westlichen Welt galt, teilweise aus ein- und demselben Grund, warum so viele von uns den Weg in die Natur, vor allem in die Berge, finden. Humboldts Antrieb war sogar, zumindest was meine persönliche Meinung betrifft, identisch mit den Motiven, die viele Läuferinnen und Läufer auf einsame Trails führt, weg von den ausgetretenen Pfaden der Großstadt und der zivilisierten Welt. Natürlich war Humboldt angetrieben davon, neues Wissen zu sammeln. Südamerika war damals ein nahezu weißer Fleck auf der Landkarte. Zwar waren die Spanier seit 300 Jahren auf dem südamerikanischen Kontinent und hatten die dort ansässigen indigenen Völker unterworfen und das Land teilweise ausgebeutet. Doch auf die Idee, den riesigen Halbkontinent gezielt zu erforschen und die verschiedenen Pflanzen und Tiere zu katalogisieren, waren bislang wenige Gelehrte gekommen. Humboldt, der mit dem aufklärerischen Gedankengut aufgewachsen war, war besessen von Wissen. Er konnte nicht genug davon anhäufen. Kein Wunder also, dass er sich in verschiedenen naturwissenschaftlichen Bereichen bestens auskannte: Geologie, Mineralogie, Geographie, Biologie, Physik, in all diesen Bereichen war er Zuhause. Er führte, unter anderem mit Goethe, Experimente mit menschlichen Leichen durch und unternahm elektrische Versuche, indem er sich z. B. selbst tiefe Wunden mit einem Skalpell zufügte und verschiedene Metalle in diese hineinsteckte, um zu sehen, wie seine Nerven reagieren würden. Kein Tag verging, an dem Humboldt nicht irgendwelchen neuen Erkenntnissen auf der Spur war. Man könnte sagen, dass er ein ruheloser Mensch war, dessen ständiger Drang nach Wissen nie nachließ. Darüber hinaus schien er in gewisser Art und Weise abhängig von Bewegung und Natur zu sein. So schilderte Humboldt, dass ihn große körperliche Anstrengungen aufheiterten und die Natur den wilden Drang in ihm besänftigen würde. Für Humboldt war Natur vor allem Wildnis. Diese Aussagen Humboldts ließen mich unweigerlich an mich selbst und die vielen Millionen Läuferinnen und Läufer in aller Welt denken. Werden wir durch körperliche Anstrengung nicht ebenfalls erheitert? Besänftigen wir durch das Laufen nicht irgendeinen wilden Drang in uns? Heutzutage wird dieser wahrscheinlich durch unseren bewegungsarmen und stressigen Alltag unterdrückt, der uns oftmals an den Schreibtisch fesselt. Erst durch das Laufen können wir dem natürlichen Bewegungsdrang nachgeben und zu uns selbst finden. Dass dies mitunter in der Natur am einfachsten funktioniert, muss ich, so glaube ich zumindest, Ihnen nicht großartig erklären. Denn die Naturerfahrung lässt den Menschen spüren, woher er kommt, dass er Teil dieser Natur ist und nicht nur irgendein Gefangener des Alltags.
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