Texte: 2020© Copyright by Sandra Mularczyk
Bilder: 2020© Copyright by Sandra Mularczyk, Pixabay
Verlag: Sandra Mularczyk Bochum ichschenkemichderwelt@gmail.com
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Druck: epubli GmbH Berlin
Hör endlich auf zu schreien!
"Hör endlich auf zu schreien, Jessica!", sagt Mama Bärbel und ist wütend. Egal was Mama Bärbel zu ihrer Tochter sagt, sie schreit mehr und mehr. "Nein, nein, nein!", schluchzt Jessica. "MAMA, BITTE HÖR AUF!" "Hör DU auf!", poltert Mutter Bärbel verständnislos zurück. Also wirklich. Als ob sie ihrer Tochter irgendetwas antun würde. Lächerlich. Schreit wie eine Irre und dann erdreistet sie sich auch noch zu sagen, sie solle aufhören. Womit? Womit zur Hölle soll sie aufhören? Zu existieren? "Du spinnst ja!", knurrt Mama Bärbel verächtlich und verlässt den Raum. Jessica verstummt augenblicklich. Aber nicht, weil ihre Mutter den Raum verlässt, sondern weil etwas in ihrem Halse stecken bleibt. Ein erstickter Hilferuf? Jessica schreit um Hilfe, fast täglich schreit sie um Hilfe, doch niemand sieht sie, niemand hört sie. Ich werde sterben, denkt Jessica. Ein letzter Schluchzer verlässt ihre Kehle, dann sinkt sie erschöpft zu Boden.
Natürlich , denkt Mutter Bärbel. War ja klar, dass Jessica sofort aufhört zu schreien, wenn ich weggehe. Ich habe Jessicas Spielchen satt. Aufmerksamkeit erzwingen, mich fertig machen, mir ein schlechtes Gefühl machen. Nein danke, nicht mit mir. Ich bin doch nicht blöd. Mutter Bärbel geht ihren wütenden Gedankengängen nach, während sie in der Küche spült und das Radio laut laufen lässt. Ich will nichts mehr hören, denkt sie. Nichts. Weil Mama Bärbel sich nicht nur äußerlich, sondern auch innerlich von den Gefühlszuständen ihrer Tochter abschotten möchte, bekommt sie nicht mit, dass…
Gleich ist alles wieder gut
Jessica steht auf. Sie ist kalkweiß im Gesicht. Niemand liebt mich, denkt sie. Ich mache alles nur falsch, denkt sie, doch Jessica denkt nicht nur, sie zittert und bebt am ganzen Körper. Sie erinnert sich an einen Zustand absoluter Harmonie. Es gab doch Mal eine Zeit, wo alles friedlich war. Oder? Es ist eine vage Erinnerung, es ist mehr ein Gefühl. Bevor ich hier bei Mama war, ging es mir gut, denkt Jessica. Aber bevor ich hier bei Mama war, war ich doch in Mamas Bauch und davor gab es mich doch noch gar nicht… Jessica überlegt. Sie schaut aus dem Fenster. Sie weiß es ganz genau. Sie kennt diesen Alles ist gut-Zustand und zu diesem will sie zurück kehren. Bestimmt war ich vor meiner Geburt im Himmel und wenn ich tot bin, komme ich wieder dort hin, denkt Jessica, öffnet das Fenster und möchte hinaus springen.
Wenn ich tot bin, ist alles gut
In diesem Augenblick hat Jessica keine Angst mehr. Ganz im Gegenteil. Euphorie-Wellen wandern durch ihren Körper. Gleich springe ich und dann wachsen mir Flügel und bestimmt verwandle ich mich schon im Sprung in einen Engel mit Flügeln… Jessica fühlt sich ganz leicht, doch dann hört sie die Stimme ihres Bruders. "Sag Mal, tickst du noch ganz sauber?!", meckert Pascal. Jessica braucht eine Weile, um zu begreifen, was gerade los ist. Sie zwinkert ein paar Mal mit den Augen, dann dreht sie sich um und schaut ihren Bruder benommen an. "Pascal…", sagt sie mit zitternder Stimme. Immer noch steht sie auf dem Fensterbrett, das Fenster ist sperrangelweit offen. "Du hast sie nicht mehr alle…", sagt Pascal und schüttelt mit dem Kopf. "Wir leben hier im fünften Stock und du torkelst da am Fenster herum…"
Ich will zu meinem Bruder
Jessica beginnt zu weinen. "Ich will zu Luca…", sagt sie. Luca ist ihr Zwillingsbruder, der direkt bei der Geburt verstorben ist. Er ist gestorben, sie nicht. Wie kann das sein? Sie hätte mit ihm gemeinsam sterben sollen oder mit ihm gemeinsam leben… Beides wäre gegangen, aber ohne ihn leben, das geht nicht. Das weiß nicht Jessicas Kopf, das weiß Jessicas Herz, das unaufhörlich blutet. "Über Luca wird nicht geredet!", verkündet Pascal und klingt kühl. Er hebt seine Schwester von der Fensterbank herunter, verschließt das Fenster und sagt noch einmal: "Es gibt Luca nicht. Verstanden?" Jessica nickt. Mich gibt es auch nicht, denkt sie. Doch niemand glaubt ihr.
Das Mädchen ohne Zwillingsbruder
Jessica ist das Mädchen ohne Bruder. Sie hat ihren Zwilling verloren, doch alle denken, das sei nicht weiter schlimm. "Ist zwar ein tragisches Ereignis…", sagen alle. "Aber kein Grund, um den Kopf hängen zu lassen. Sei doch froh, dass du verschont geblieben bist." "Ja, du solltest dich glücklich schätzen!", sagen alle Tanten und Onkels. "Du hast schließlich überlebt." Aber Jessica ist nicht glücklich. Das ist das Problem. Ohne ihren Bruder ist sie keine einzige Sekunde glücklich. Ohne ihren Bruder ist sie gar nicht existent. Es ist nicht etwas Anderes weg, sie ist weg. Sie ist ihr Bruder. Es gibt keinen Unterschied zwischen ihnen beiden. Sie sind eins. "Du bist ein Teil von mir, Luca!", sagt Jessica und schaut in den Spiegel. "Und ich bin mit dir mitgestorben. Wir wollten es gemeinsam machen. Das war die Vereinbarung."
Gespräche mit dem toten Bruder
Immer, wenn Jessica mit ihrem toten Bruder spricht, weint sie und hat nur einen einzigen Wunsch: Dort zu sein, wo er auch ist. Hier sein zu müssen, während er ganz weit entfernt von ihr ist, zerreißt ihr das Herz und das nicht nur manchmal, sondern im Sekundentakt. Wenn ihre Familie doch nur begreifen würde, wie viel Schmerz und Kummer doch in ihrem jungen Herz wohnt? Jessica wünscht sich Trost und Anteilnahme, aber wahrscheinlich würde auch das nicht helfen. Der einzige Trost wäre, wenn Luca bei ihr wäre. Aber Luca ist nicht bei ihr, er wird nie bei ihr sein, er hat sie verlassen und sie muss hier vor sich hin vegetieren und zu allem Überdruss auch noch GLÜCKLICH sein.
Der glückliche, lebendige Zwilling
Jessica ist überfordert. Das ist ungerecht. Wie soll sie jemals der glückliche, lebendige Zwilling sein, wenn sie doch weder glücklich noch lebendig ist? Ich bin tot, brüllt es in Jessicas Kopf. Ich bin genauso tot wie Luca und ihr zwingt mich, zu leben. Jessica hat nicht das Gefühl, freiwillig hier auf Erden zu sein. Sie hat keine Lust auf dieses Leben und obwohl gerade herrlichster Geruch aus der Küche in ihre Nase hinein wandert, schüttelt es sie innerlich. Ich will nichts essen, denkt Jessica und spürt diese Übelkeit in ihr. Sie weiß nicht, was schlimmer ist: Dass Luca tot ist oder, dass niemand sie versteht. Beides erscheint Jessica wie eine schlimme, kaum aushaltbare Folter. Jessica ist erst 8 Jahre alt und doch würde sie das Leben auf Erden als Hölle bezeichnen. Ohne Luca ist alles wie eine Hölle, denkt Jessica und ist traurig, dass Pascal nicht mehr bei ihr ist.
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