Irene Schlör
Geboren in der Ukraine
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Inhaltsverzeichnis
Titel Irene Schlör Geboren in der Ukraine Dieses ebook wurde erstellt bei
Kapitel 1 Großeltern und Eltern
Kapitel 2 Vorschulzeit (1922 – 1928)
Kapitel 3 Sommerfrische (1927 – 1934)
Kapitel 4 Schulzeit (1930 -1940)
Kapitel 5 Immer wieder Umzug (1935 – 1938)
Kapitel 6 Sibirien (1936 – 38)
Kapitel 7 Nach zwei Jahren wieder zurück
Kapitel 8 Das Leben ist schön
Kapitel 9 Heim ins Reich
Kapitel 10 Der lange Weg nach Halle an der Saale
Kapitel 11 Ausländer
Kapitel 12 Das letzte Kriegsjahr
Kapitel 13 Lungenheilstätte Weissenhof
Kapitel 14 Leid und Freud‘
Kapitel 15 „Reader, I married him“
Kapitel 16 Die Entfremdung und Scheidung
Impressum neobooks
Kapitel 1 Großeltern und Eltern
Geboren in der Ukraine
von Irene Schlör
nach einem biographischen Tatsachenbericht
Vorwort
Verfechter politischer Korrektheit um jeden Preis werden über den einen oder anderen Ausdruck stolpern, den die Ich-Erzählerin, geboren 1921, wie selbstverständlich verwendet.
Auch die Wertvorstellungen und gängigen Ansichten jener Zeit haben sich mit der Revolution der 68er völlig geändert.
Ich selber, geboren 1948, habe bereits ein völlig anderes Verständnis von z.B. Gleichberechtigung oder der Freiheit der Frau. Meine Generation war praktisch die erste, die sich flächendeckend emanzipierte. Anders als exzentrische Geschlechtsgenossinnen aus der Vergangenheit, die sich ihre Freiheiten nahmen (denken wir nur an George Sand oder Simone de Beauvoir), waren in den 70er Jahren plötzlich alle Frauen „frei“.
Nach und nach eroberten sie jeden Beruf, ignorierten Jahrhunderte alte Traditionen und Bräuche wie Keuschheit vor der Ehe, keine Berufstätigkeit in der Ehe oder Kinder außerhalb der Ehe. Überhaupt wurde die Institution der Ehe immer nichtiger, andere Formen des Zusammenlebens – nicht nur zwischen Mann und Frau – gewannen an öffentlicher Zustimmung.
Feministinnen machen unter anderem die Erleichterung der Hausarbeit durch verschiedene Geräte, die sexuelle Aufklärung und die zunehmende Zuverlässigkeit und Erreichbarkeit von Verhütungsmitteln für den gesellschaftlichen Wandel verantwortlich.
So plausibel dies klingt, im Grunde aber ist er eine Bewegung, die sich schon seit der Aufklärung im 18. Jahrhundert durchzusetzen begann. Goethes Gretchen wurde hingerichtet, weil sie ihr uneheliches Neugeborenes tötete. Goethe sorgte mit diesem Drama für ein Umdenken durch Erregung von Mitleid und Erschauern. Vor ihm hatte schon Lessing mit „Minna von Barnhelm“ erstmals in der deutschen Dramengeschichte eine Frau als Titelfigur genannt. Auch seine „Emilia Galotti“, die auf ihre Bitten hin vom eigenen Vater erdolcht wird, um ihr und der Familie eine „Schande“ zu ersparen, sorgte für eine kleine Revolution in der deutschsprachigen Literatur.
Kurzum, die weit um sich greifende Gleichberechtigungsbewegung der Frau war eine langwierige Angelegenheit, die Deutschland z.B. eigentlich erst in der späteren Nachkriegszeit voll erfasste.
Meine Mutter war eine moderne Frau, die in einfachen Sätzen komplexe Zusammenhänge darstellen und plausibel erscheinen lassen konnte. Ich habe mich bemüht, aus ihren Aufzeichnungen, die zum heutigen Zeitpunkt (2018) auch schon wieder ein Vierteljahrhundert alt sind, einen authentischen Tatsachenbericht zu erstellen. Ich wünsche mir, dass er verschiedene Generationen ansprechen möge.
I. Schlör, im April 2018
Im November dieses Jahres 1991 werde ich 70 Jahre alt und im April darauf wird es 50 Jahre her sein, dass ich mit meinen Eltern im Waggon eines Güterzugs zusammen mit anderen Familien die Sowjetunion verlassen habe und in meiner neuen Heimat Deutschland angekommen bin.
Meine Tochter hat mich gebeten meine Erinnerungen aufzuschreiben. Mein Schicksal gleicht dem anderer Flüchtlinge, aber jedes Leben für sich ist doch einzigartig. Ich werde also versuchen mich an die Wahrheit zu halten.
Am 21. November 1921 wurde ich in einer Stadt namens Jusowka geboren. Später wurde diese in Stalino und schließlich in Donezk umbenannt. Es waren schwere Zeiten damals. Nach dem Ersten Weltkrieg und der Russischen Revolution froren und hungerten die Leute.
Meine Eltern wollten keine weiteren Kinder, obwohl sie mich sehr liebten. Mein Vater Sergej Nikolajewitsch Witkowsky war ein junger Elektroingenieur, gescheit und schlagfertig, aber nie sarkastisch oder verletzend. Er hat sich niemals über die Fehler anderer lustig gemacht. Als ich klein war, wohnten wir in der Nähe seines Elternhauses. Mein Großvater Nikolaj Nikolajewitsch hatte keine akademische Bildung, aber ein unglaublich gutes Gedächtnis und er tat alles, was er anging, mit großer Hingabe. Er war sehr belesen und interessierte sich für fast alles. Es war faszinierend, sich mit ihm zu unterhalten. Vor der Revolution war er Bankdirektor, danach arbeitete er als einfacher Mitarbeiter in derselben Bank weiter.
Seine Frau, meine Großmutter Warwara Vladimirowna, hatte wenig Schulbildung und heiratete recht früh, denn die Familie war arm und hatte sieben Kinder zu versorgen. Sie war eine gute Hausfrau und treu liebende Ehefrau, was damals das Idealbild einer rechten Frau ausmachte.
Von den drei Söhnen, die meine Großmutter väterlicherseits geboren hatte, starb der jüngste als Kind an Keuchhusten, der zweite, Wolodja, fiel später im Krieg und mein Vater Sergej, anderthalb Jahre älter als Wolodja, hatte ein sehr enges und herzliches Verhältnis zu seinem Bruder. Serjoscha war ein Spätentwickler, der in der Schule zunächst fürchterliche Angst hatte, nicht mitzukommen und sitzenzubleiben, was ihn ja in derselben Klasse mit seinem jüngeren Bruder hätte landen lassen. Aber bald „wachte er auf“, wenn man das so ausdrücken kann, und war fortan ein sehr guter Schüler, sorgfältig und arbeitsam. Er schloss das Gymnasium mit einer Goldmedaille ab.
Volodja hingegen war sehr begabt, alles flog ihm zu, aber er hasste die Schule und die damit verbundene Arbeit. Er bekam seinerseits zum Abitur „nur“ die Silbermedaille.
Nach Volodjas Tod war Serjoscha also das einzige Kind meiner Großeltern. Und ich war ihr einziges Enkelkind. Meine Großmutter überschüttete mich mit ihrer Liebe, die für zehn Enkelkinder gereicht hätte. Diese überschwängliche Liebe war für mich jedoch eine Last. Ich hatte manchmal das Gefühl zu ersticken.
Meine Großeltern mütterlicherseits lebten bis zu ihrem Tode in Jusowka. Mein Großvater Iwan Iwanowitsch Borsenko war vor der Revolution Gutsverwalter und wohnte mit seiner zahlreichen Familie in einem großzügigen Anwesen mit Zier- und Gemüsegarten. Großvater hat oft Bücher gelesen. Er hatte ein umfangreiches Bücherregal, das immer voller wurde und fast überquoll. Später sollte ich bei meinen Besuchen dort zu meinem unsagbaren Vergnügen reichlich Zugang dazu bekommen.
Großvater war ein leidenschaftlicher Jäger und ging fast an jedem Sonntag mit seinen Freunden auf die Jagd. Als meine Mutter klein war, hatte ihr Vater stets den einen oder andern Jagdhund, der ihm auf Kommando gehorchte, jedoch für die Anweisungen meiner Oma oder der Bediensteten kein Ohr hatte.
Meine Oma Sabina Karlowna (Sabine Blondine Dorothee Lange) war zweimal verheiratet. Ihr erster Mann, der Vater meiner Tante Maria, starb sehr früh an Typhus. Aus der Heirat mit meinem Großvater gingen neun Kinder hervor, von denen nur vier das Erwachsenenalter erreichten: Konstantin, Jelena, Viktor und Sofia. Marusja übrigens wurde von Großvater genauso geliebt wie seine eigenen Kinder.
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