Dann fuhr der Holzklotz blitzschnell hinunter und Cassies Schrei zerriss die warme Nachtluft.
Caleb, der die Gefahr längst gerochen hatte, stach sofort auf seinen Gegner blind ein und spürte, wie der Schattenmann anschließend sein Ziel verfehlte. Der Klotz verlor sich auf dem Boden und der Fremde fiel bäuchlings auf die kalte Erde, und rammte das Messer noch tiefer in die Magengegend ein. In der Stille hörten beide noch wie der Fremde zum letzten Mal Atem holte.
„Komm, wir müssen so schnell wie möglich von hier verschwinden“, sagte Caleb zu Cassie noch im Aufstehen.
„Aber wir können ihn doch nicht einfach so liegen lassen?!“
Cassie spürte seinen festen Griff um ihre Hand.
„Wir müssen!“, sagte er nur kurz und knapp und zog sie hinter sich her.
„Aber vielleicht lebt er noch.“
„Scheinbar hast du es bereits vergessen – er wollte mich vor wenigen Sekunden noch töten.“
„Nein, das habe ich nicht, aber so würde dich jeder für seinen Mörder halten. Ich meine, mit deiner Flucht machst du dich verdächtig.“
Die beiden gingen den Weg zurück, durch das Labyrinth aus grünen Hecken, aber kamen diesmal aus einem anderen Ende heraus.
„Das ist mir schon klar, aber keiner wird mir Glauben schenken, egal was ich sagen werde.“
„Warum bist du dir so sicher?“
Dann drehte er sich zu ihr und sah sie an. Sah das Mädchen an, das noch zu sehr an eine unschuldige Welt glaubte. Zu gerne hätte er ihr die Gründe dafür erklärt, aber einige Stimmen im Hintergrund hinderten ihn daran.
Besorgt warf er einen kurzen Blick in alle Richtungen und meinte anschließend: „Ich erkläre es dir später.“
Bald saßen sie in der Kutsche und fuhren zum Hafen. Noch heute Nacht verließ das Schiff Melisse den Hafen von Harwich, auf der Flucht vor falschen Anschuldigungen.
machtlos
Ein neuer Tag brach an. Für Ralph und Irene war es ein ganz besonderer Tag. Ihre Hochzeit. Heute ging für Irene ein Traum in Erfüllung, ein Traum, dem sie fast ihr ganzes Leben lang nach jagte. Für Ralph dagegen eine reine Enttäuschung. Für ihn war Irene alles andere, als Lady Cassandra. Fünf Jahre älter als er und längst keine Jungfrau mehr. Eine Frau ohne Geld kam ihm noch bis vor einem Tag nicht in Frage. Wenn das mit Cassie nicht gewesen wäre, dann hätte er Irene niemals geheiratet. Irene besaß nichts, nicht einen Cent, dafür aber einen ausgeprägten Charakter. Es wird mir schwer fallen meiner zukünftigen Frau beizubringen, wer hier das Sagen hat. Doch ich werde es ihr zeigen und wenn es notwendig sein wird, so werde ich sie daran erinnern, weshalb ich sie geheiratet habe , dachte Ralph, als er sich vor dem Spiegel betrachtete.
Zufrieden wand er sich von seinem Spiegelbild ab und verließ eilig sein Zimmer.
In der Hetze und dem ganzen morgendlichen Durcheinander fand Irene noch die Zeit zum Träumen. Die Mädchen, die ihr beim Ankleiden und Frisieren halfen, sahen das Strahlen ihrer dunklen Augen und das verträumte Lächeln ihrer leicht geschwungenen Lippen. Das typische Bild einer überglücklichen Braut, die es kaum erwarten kann ihrem Bräutigam gegenüber zu treten. Ein Glück, das sich jedes junge und unverheiratete Mädchen wünschte und sie zu tiefst beneidete. Und das wusste Irene. Und sie tat auch alles daran diesen Augenblick zu genießen. Die Eifersucht der anderen mittelloser, junger Frauen. Dank dem Schicksal für das große Glück, das ich heute erleben darf. Was für eine tiefe Freude erfüllt mein Herz, wenn ich daran denke. Bald, schon sehr bald werde ich die Viscountess dieses Hauses sein. Eure Herrin.
„Perfekt!“, sagte die Friseurin und legte mit den letzten Handgriffen Irenes langen, weißen Schleier zurecht.
Lady Cassandras goldene Haarspange mit weißen Diamanten besetzt funkelte verspielt im Tageslicht.
„Sie sind fertig, Miss.“
Irene nahm einen Handspiegel und überprüfte, ob ihr Make-up und das frisierte Haar ihren Wünschen entsprachen.
„Wunderschön!“, antwortete sie zufrieden.
Dann stand sie auf und eines der Mädchen legte ihr einen Schal aus schneeweißem Nerz über ihre nackten Schultern. Nur noch ein letzter Blick in den Spiegel und die Braut begab sich auf den Weg zu ihrer Kutsche.
Wie die Tradition es verlangte, war der Bräutigam, der Viscount of Harwich, längst in der Kirche und wartete auf seine Braut. Miss Irene Hunter. Die Frau, die ihn viel zu sehr liebte, das sie seine Kälte, die er ihr gegenüber empfand und sie auch spüren ließ, nicht wahr nahm. Viel zu dick war der Mantel, den sie aus verträumter, einseitiger Liebe trug, dass seine Kälte keine Chance hatte in sie einzudringen. Tief einzudringen. In ihr Körper, in ihren Geist und ihre Seele.
Viel zu sehr glaubte Irene, in Ralph die Romanfigur gefunden zu haben, von der sie schon seit Jahren träumte. Geprägt aus Stärke und Selbstsicherheit. Ein Mann der ganz genau weiß, wo es lang geht. In dessen Armen sie sich beschützt und geborgen fühlen darf. Ihr Herz sehnte sich nach Ralphs Liebe. Starken Liebe. In der sie sich wünschte zu ertrinken.
Als Irenes Kutsche die Kirche erreichte klopfte ihr Herz vor Freude. Ein Page half ihr aus der Kutsche und sie ging vorsichtig die Stufen hinauf. Und zwar allein. Schade! , dachte sie insgeheim. Ihre Eltern waren schon lange tot und Ralphs Vater, der einzig Lebende, der war nicht einmal von seinem Sohn eingeladen worden. Die Tür stand offen und Irene trat ein. Im Foyer hörte sie eine Orgel spielen. In den Reihen drehten die Gäste neugierig ihre Köpfe zu ihr. Mit einem warmherzigen Blick lächelten sie Irene an und machten ihr Mut auf ihren Bräutigam zuzugehen.
Ralph stand vor dem Altar und wartete auf seine Braut. Er hörte, wie der Orgelspieler das Musikstück zu Ende spielte und zum Hochzeitsmarsch wechselte. Ralph sah auch, wie seine glückliche Braut mit einem strahlenden Lächeln langsam, mit dem Rhythmus des Musikstücks, auf ihn zu kam, aber er hatte für seine Braut kein Lächeln übrig. Kalt und lieblos empfing er seine glückliche Braut und schwor ihr vor Gott und den Menschen ewige Liebe und Treue.
***
Zur gleichen Zeit saß ein älterer Mann in seinem Rollstuhl gefangen. Gefangen in seinem Körper und gefangen in seinem eigenen Dachbodenzimmer. Er ahnte nicht, was in dem Herzen seines Sohnes, genauso wenig in dem Herzen seiner Schwiegertochter vorging. Aber er wusste, dass heute Morgen für das junge verlobte Paar ein ganz besonderer Tag war. Ihre Hochzeit. Natürlich, irgendwo in seinem alten Herzen wäre er gerne eingeladen worden, aber nicht hingegangen. Viel zu groß war der Hass auf seinen eigenen Sohn, der auf Grund einer einzigen Schwäche ihm alles genommen hatte, auch die Freiheit. Und so lebte er seit einem ganzen Jahr, tagein und tagaus, nur vor sich hin. Die Einsamkeit wurde zu seinem Freund.
Plötzlich klopfte es an der Tür.
„Herein!“, rief der ältere Mann.
Die Tür ging auf und sein Freund trat ein.
„Harvey, welch eine Überraschung. Ich dachte, du wärst auf der Hochzeit.“
Sein alter Freund nahm den Hut ab und sagte: „Ich hoffe, ich störe nicht.“
„Nein, im Gegenteil. Ich freue mich, dass du gekommen bist. Setz dich doch“, bot Charles seinem Freund den einzigen Stuhl an, den er hatte.
„Danke.“
Doktor Harvey öffnete seinen dünnen Mantel, den er stets immer trug. Denn als Dorfarzt wusste er nie so ganz genau, wo er heute sein wird und welches Wetter ihn erwarte. So auch heute nicht. Und setzte sich.
„Wie geht es dir heute?“, fragte er aus Gewohnheit.
Der alte Mann im Rollstuhl lächelte.
„Seit gestern Abend sehr gut!“
„Das freut mich“, sagte Doktor Harvey, ohne zu wissen, was sein langjähriger Freund damit meinte.
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