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Oben angekommen nahm einer der Diener das jungvermählte Paar in Empfang und bat den Captain ihre Einladung kurz zu zeigen.
„Seit wann braucht der Bruder des Viscounts eine Einladung?!“, lachte Captain Harrington und tätschelte die Hand seiner jungen Gemahlin.
„Verzeiht bitte, ich …“, lächelte der Diener verlegen.
„Schon geschehen“, sagte der Bruder des Viscounts ganz schnell und legte ihm entschuldigend eine Hand auf die Schulter.
„Komm, meine Liebe, wir sind spät dran“, drängte der Captain seine Gemahlin, ehe die Zwei es sich noch anders überlegten.
Über dem Marmorboden schalten ihre schnellen Schritte, bis sie eine massive, weiße Tür erreichten. Und hinter dieser Tür hörte Lady Cassandra eine leise Musik. Der Ballsaal. Sofort gefror ihr das Blut in den Adern.
Von hinten eilte ein Diener herbei.
Der Mann an ihrer Seite nahm eine aufrechte Haltung an. Mit erhobenem Haupt zeigte er Mut. Mut, seinem Bruder entgegenzutreten. Und Stolz, die schönste und reichste Frau an seiner Seite zu haben. Die Frau, mit der sein Halbbruder bis vor wenigen Stunden noch verlobt war. In diesem Moment genoss Lady Cassandra seinen Anblick. Und sie musste zugeben, dass sie ihn sympathisch fand. Daran ist nur sein gutes Aussehen schuld, entschuldigte sie sich. Wie seltsam, dass ich noch nie etwas von Ralphs Bruder gehört habe, wunderte sie sich. Sie sah zu ihm auf und fand nicht eine einzige Ähnlichkeit mit seinem Bruder.
Ein Diener in weißer Uniform öffnete dem Gästepaar die Tür und wünschte ihnen einen schönen Abend. Als Antwort lächelte Lady Cassandra freundlich und wünschte sich den Tod.
Ein lieblicher Duft eines Damenparfüms hing in der Luft und versüßte den Empfang einer Ballnacht. Das neue Gästepaar merkte, wie sich alle Augenpaare auf die Tanzfläche richteten. Im Hintergrund spielte ein kleines Orchester.
Neugierig, wem die ganze Aufmerksamkeit galt, kam das Paar näher. Und staunte nicht schlecht, was sie da sahen.
Ralph Darton Viscount of Harwich tanzte mit einer Frau im dunkelblauen Kleid. Das dunkelbraune, beinahe schwarze Haar trug sie hochgesteckt, geschmückt mit einer weißen Blume. Einer Rose, vermutete Lady Cassandra und merkte nicht, wie winzige Dornen der Eifersucht in ihr Herz stachen. Wer ist sie? Hatte sie noch das Recht danach zu fragen? Nein! Nicht mehr. Mit meiner Flucht ist es längst vorbei.
Wie zwei Schmetterlinge schwebte das Paar über die Tanzfläche und die Gäste sahen gespannt dabei zu. Captain Harrington grinste, als er die Tanzpartnerin seines Halbbruders erkannte. Wer denn sonst, als nicht Irene Hunter, das kleine Flittchen aus den Kindertagen. Interessant zu welcher Alternative du gegriffen hast, Bruderherz.
Als der Tanz zu Ende war klatschten alle Gäste, mit Ausnahme von der jungen Lady und ihrem Gemahl, erfreut in die Hände. Sofort setzten die Musikanten erneut an und junge, wie auch ältere Paare strömten auf die Tanzfläche. Unter ihnen befand sich auch das ungeladene Paar.
Während der Captain mit seiner Gemahlin tanzte behielt er seinen Bruder im Auge. Lady Cassandra spürte Captain Harringtons Anspannung, folgte einem seiner heimlichen Blicke und war davon überzeugt, dass er ein anderes Ziel verfolgte, als sie seinem Bruder auszuliefern. Aber welches? Seine Anspannung und Nervosität widersprach dem Vergnügen, dass er jedem vorzuspielen versuchte.
Sie ist so glücklich, war Lady Cassandra überzeugt, die Mimik der Braut richtig gedeutet zu haben, wie ich es während meiner Verlobung niemals war. Zu schade! Vielleicht hätte mir das Schicksal dann so einiges erspart, dachte sie und sah den Captain dabei vorwurfsvoll an.
Das Musikstück nahm sein Ende und der Viscount und seine Braut gingen mit vollen Gläsern Champagner zu ihren Freunden. Unauffällig folgte das ungeladene Paar den beiden. Captain Harrington beabsichtigte noch ein wenig zu warten, bevor er sich seinem Halbbruder stellte. Wie wird er reagieren, wenn er erfährt, dass ich ihm seine Verlobte ausgespannt habe? , fragte sich Harrington. Ein Diener kam mit einem Silbertablett vorbei und fragte das schweigsame Paar, ob sie etwas trinken wollten.
„Sekt oder Champagner?“
„Schatz, was hättest du gerne?“, fragte Harrington seine Gemahlin.
„Ein Glas Sekt, bitte“, antwortete sie lächelnd.
„Für meine Gemahlin Sekt und mir den teuersten Wein, den ihr habt.“
„Tut mir leid, Master Caleb, aber der Viscount und seine Braut haben für heute Abend nur Champagner und Sekt vorgesehen. Ich hoffe, ich kann Sie auf morgen vertrösten.“
Morgen, ja morgen wäre meine Hochzeit, dachte Lady Cassandra.
„Wieso das, muss mein Bruder etwa sparen?“, scherzte Harrington und merkte nicht, wie sich mehrere Blicke aus purer Neugier auf ihn richteten.
„Hat die Mitgift seiner Braut nicht sein Budget gesprengt?“
Die Gäste tuschelten grinsend miteinander.
Spätestens jetzt müssen mich genug Gäste erkannt haben und unter ihnen ist bestimmt jemand von der Presse. Oh Caleb! , ärgerte sich Cassie.
Noch nie hatte jemand aus meiner Familie einen schlechten Ruf, ich werde die Erste sein, wenn sie durfte, so hätte sie jetzt geflucht.
„Sei unbesorgt, Roger, bei mir darfst du eine Ausnahme machen. Mein Bruder wird mir gern verzeihen“, sagte er und lächelte ganz frech.
Und Roger glaubte ihm.
Lady Cassandra kehrte den tratschenden Gästen den Rücken zu und versuchte nicht hinzuhören, was sie über sie erzählten. Ihr Blick sank traurig zu Boden. Caleb fiel das auf und bekam sofort Mitleid mit ihr. Er legte seine Hand auf ihre Schulter und flüsterte ihr ins Ohr: „Bald ist alles vorbei.“
Bald kam auch schon der Diener mit den gewünschten Getränken.
Der Captain nahm ihm zwei volle Gläser ab, bedankte sich und reichte seiner Gemahlin das gewünschte Glas mit den Worten: „Komm, lass uns jetzt zu meinem Halbbruder gehen.“
Als die junge Lady diese Worte hörte, drehte sich ihr Magen um. Nein, bitte nicht! , las Harrington das Flehen in ihren Augen. Doch er ignorierte ihre stumme Bitte und zog sie sanft an der Hand, damit sie ihm folgte.
Schließlich standen sie hinter ihm, ihrem Ex-Verlobten, dem Viscount of Harwich, und neben ihm stand seine Braut.
Captain Harrington berührte die Schulter des Bräutigams und dann standen sie Gesicht an Gesicht. Der Jüngere überrascht und der Ältere frech grinsend. Bruder gegen Bruder.
Caleb hob sein Glas und prostete seinem Bruder provozierend zu: „Auf dein neues Eheglück, Bruderherz!“ Und trank das Glas leer.
Ralph kochte innerlich vor Wut, als er den für morgen reservierten Rotwein in seinem Glas erkannte.
„Und danke für deine Einladung“, grinste Caleb seinen Bruder vorwurfsvoll an und stellte sein leeres Glas auf ein Tablett, das ein Diener im Vorbeigehen bei sich trug.
Plötzlich berührte Irene Ralphs linke Hand, als sie sich zu ihnen drehte und hinderte somit unbeabsichtigt den Gastgeber die Wahrheit zu sagen.
„Ich habe es gern getan“, zu diesen Worten setzte Ralph noch ein künstliches Lächeln auf.
Caleb kannte die Wahrheit. Es gab keine Einladung für den einzigen Bruder.
„Ich denke, meine Braut kennst du schon, deshalb nimm es mir nicht übel, wenn ich meine Aufmerksamkeit wieder meinen Gästen widmen werde“, und damit glaubte Ralph das Gespräch mit seinem Halbbruder beendet zu haben.
Einige der umstehenden Gäste hörten mit welcher Grobheit der Gastgeber zu seinem Bruder gesprochen hatte und verstummten. Neugierig lauschten sie in seine Richtung.
„Gewiss, deine schöne Braut kenne ich sogar sehr gut. Nicht wahr Irene?“ Caleb schenkte Irene sein Lächeln. Es war das Lächeln, mit dem er Frauenherzen immer höher schlagen ließ. Und auch dieses Mal verfehlte es nicht seine Wirkung. Denn Irene lächelte schüchtern zurück.
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