Sie hielt die schadhafte Damastserviette gegen das Licht. Eine Jagd war als kunstvolles Muster in das seidigglänzende Gewebe hineingewebt. Diese Jagd mit Hirschen, Hunden und Jägern hatte schon ihre Begeisterung erregt, als sie noch Doktor Brauns kleines Nesthäkchen gewesen und mit ehrfürchtigen Augen vor dem mullverhangenen Wäscheschrank der eigenen Großmutter gestanden hatte. »Dieses Jagdgedeck sollst du mal bekommen, Annemarie, wenn du groß bist und dich verheiratest. Ich habe für jede Enkelin ein Damastgedeck bestimmt.« Als wäre es heute, so genau erinnerte sich Frau Annemarie jener Szene aus ihrer Kinderzeit. Merkwürdig – sie lebte jetzt überhaupt viel mehr in der Vergangenheit als früher. Längst vergessene Bilder, die jahrzehntelang entschwunden, tauchten manchmal wieder auf. Das ging wohl jedem so mit zunehmendem Alter. Die Gegenwart erforderte nicht mehr volles Sicheinsetzen, die Zukunft hatte nicht mehr viel zu bringen. Was blieb da noch? Die Vergangenheit eines langen, an Freud und Leid reichen Lebens. Beinahe zärtlich streichelte die fein geäderte Hand über den alten Damast. Nein, sie sollte noch nicht ausrangiert werden, ihre Jagdserviette. War man nicht selbst auch allenthalben rissig und brüchig geworden? Emsig begann sie den Faden durch die schadhaften Stellen zu ziehen.
Droben im Stübchen grade über dem Biedermeierzimmer der Großmama saßen sich indessen Marietta und Lottchen gegenüber. Hier war jetzt Schulstunde. Lottchen, die seit einem halben Jahr von der Volksschule auf das Mädchenlyzeum umgeschult war, zeigte trotz heller Auffassungsgabe in den fremden Sprachen manche Lücke. Marietta hatte sich vorgenommen, dieselben auszufüllen. Ihr, die schon als Kind fünf verschiedene Sprachen gelernt hatte, machte das weiter keine Mühe. Sie betrachtete Lottchen immer noch als ihren kleinen Findling, für den sie verantwortlich war. Hatte sie nicht damals in Brasilien der sterbenden Mutter der Kleinen versprochen, sich ihres verwaisten Kindes anzunehmen, es nach Deutschland zu befördern, zu den in Schlesien lebenden Verwandten? Die Nachforschungen nach denselben waren erfolglos geblieben. Lottchen hatte in Lichterfelde ebenfalls eine Heimat gefunden. Frau Trudchen und ihr Mann, das Kunzesche Ehepaar, das schon über zwanzig Jahre in Haus und Klinik des Großvaters tätig war, hatten die kleine Waise an Kindes Statt angenommen. Die Großmama mit ihrem warmen Herzen betrachtete auch das fremde Kind wie eins ihrer zahlreichen Enkelkinder. Für die materiellen Anschaffungen der Kleinen, Kleidung, Schulgeld usw., aber sorgte Mariettas Vater, der reiche Plantagenbesitzer in Brasilien. Oder vielmehr seine Tochter tat es. Der Scheck, den Marietta allmonatlich vom Vater zur Verfügung gestellt bekam, bedeutete für deutsche Begriffe eine recht beträchtliche Summe. Die persönlichen Bedürfnisse des einst so eleganten Tropenprinzesschens waren in Deutschland in dem bürgerlich-bescheidenen Heim der Großeltern ebenfalls bescheidener geworden. Trotzdem Marietta nur gewöhnt war, das Beste zu kaufen und sich vornehm elegant kleidete, entsprach Schlichtheit dem Grundzuge ihres Wesens. Den Hauptteil des väterlichen Schecks verwandte sie dazu, um anderen eine Freude zu machen. Ihre kleinen Schützlinge im Kinderhort und in der Krippe waren ihre besten Abnehmer. Sie hatte es auch angeregt, daß Lottchen in ein Lyzeum umgeschult wurde. Der Großvater stimmte nicht dafür. »Unsere Volksschulen sind so vortrefflich, daß sie eine solide, ausreichende Grundlage für den späteren Beruf geben. Wozu soll das Kind über seinen Stand hinaus? Es braucht nicht französisch und englisch zu lernen.« Aber Marietta mit ihren sozialen Grundsätzen hatte ihm auseinandergesetzt, daß jedem Menschen mit guter Veranlagung die Gelegenheit geboten werden müsse, so viel wie möglich zu lernen. Der Großpapa dachte doch sonst so human – alt und jung verstanden sich darin nicht. Die Großmama mußte wieder mal vermitteln. Sie schlug sich auf Mariettas Seite. Warum sollte man dem Kinde, wenn die dazu erforderlichen Geldmittel da waren, nicht die Möglichkeit geben, sich durch gute Bildung in eine höhere Lebenssphäre hinaufzuarbeiten? Es war ganz ausgeschlossen, daß sich Lottchens Anverwandte, nach denen man jahrelang Nachforschungen angestellt, noch melden würden. Lottchen war ein liebes, bescheidenes Kind, das seinen Pflegeeltern auch dankbar bleiben würde, wenn ihr Lebensweg sie in gebildete Kreise führte. So war Lotte Lyzeumsschülerin geworden und gehörte dort zu den besten. Freilich, Marietta setzte auch ihre Ehre darein, das Kind in jeder Weise zu fördern, daß sie ihrer Fürsprache keine Schande machte.
Heute war die junge Lehrerin nicht so bei der Sache wie sonst. Und diese Gedankenabwesenheit übertrug sich auf die Schülerin. Denn ein Kind merkt es sofort, ob der Lehrende sich ganz einsetzt, oder ob seine Gedanken woanders weilen.
»To say – said – said, to forgot – forget – forgetten – – – stimmt das, Fräulein Marietta? Ach, Sie haben ja gar nicht aufgepaßt. Hier steht's ›ich habe vergessen‹ heißt › I have forgotten‹«, beschwerte sich die Schülerin über die Lehrerin, das Pauken der unregelmäßigen englischen Verben unterbrechend.
Marietta fuhr beschämt hoch. »Wirklich, Lottchen, ich habe eben nicht aufgepaßt«, gab sie ehrlich zu. »Fange noch mal von vorn an.« Und sie gab sich redlich Mühe, ihre Gedanken fest auf die unregelmäßigen Verben zu richten. Aber das Herunterleiern derselben war eintönig und langweilig. Lottchen konnte sie wie am Schnürchen. Während Marietta die Blicke auf das blühende Kindergesicht richtete, mußte sie unwillkürlich daran denken, wie elend und bleich, wie mager und abgezehrt das Kind gewesen, als sie es in den Tropen in ihr Haus genommen. Freilich, daran waren die ungesunden Lebensbedingungen der Plantagenarbeiter in Brasilien schuld. Lottchens Eltern, die als deutsche Auswanderer dort drüben ihr Glück zu finden glaubten, hatten das Tropenklima und die unhygienischen Wasserverhältnisse das Leben gekostet. Sie waren einem typhösen Fieber erlegen. Wieder sah Marietta die fensterlose Lehmhütte in dem Plantagendorfe der Orlandos, einer der reichsten Familien drüben, vor sich, zu der ihr kleiner Findling sie einst geführt. Damals war zuerst der Wunsch in dem vierzehnjährigen Mädchen erwacht, soziale Hilfe zu leisten, den Armen, Bedrückten zu helfen.
»To know – knew – knewed – nein, knowd wie heißt denn ›gewußt‹, Fräulein Marietta?« Lottchen blickte ganz verwundert auf ihre sonst so pflichteifrige Lehrerin, die schon wieder nicht aufmerksam zu sein schien.
»Known muß es heißen, Lottchen – to know – knew – known«, beeilte sich Marietta ihren Fehler wieder gutzumachen. Ihre Gedanken kehrten endgültig von den Kaffeeplantagen zu Lottchens unregelmäßigen Verben zurück. Die Stunde nahm nun ohne Störung ihren Fortgang, bis Frau Trudchen unten mit den Kaffeetassen klapperte.
Die Nachmittagskaffeestunde liebte Frau Annemarie jetzt ganz besonders. Sie war ihr die gemütlichste am Tage, da dieselbe ihre Lieben um sie vereinte. Sonst fehlte meistens einer bei den Mahlzeiten oder hetzte, um fortzukommen. Seitdem der Geheimrat nur noch vormittags in der Klinik seine Sprechstunde abhielt, war er nachmittags frei, wenn nicht gerade ausnahmsweise noch ärztliche Besuche vorlagen, oder sich ein kühner Patient erdreistete, den Nachmittagsfrieden der alten Herrschaften durch unerwünschtes Klingeln zu unterbrechen. Das heißt unerwünscht nur bei Frau Annemarie. Sie wollte, daß ihr Mann sich allmählich zur Ruhe setzen sollte, daß er mit seinen Kräften haushielt. Er hatte lange genug, Tag und Nacht bei Wind und Wetter seine Pflicht getan. Aber der alte Herr knurrte, daß man ihn jetzt zum alten Eisen warf. Er war überhaupt in seiner Stimmung nicht mehr so gleichmäßig wie früher. Es war für Frau Annemarie oft gar nicht leicht, heiter und geduldig zu bleiben. Wenn Marietta daheim war, hob sich sein Stimmungsbarometer erstaunlich. »Ich werde auf meine alten Tage noch eifersüchtig werden«, drohte die Großmama oft.
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