An Schlaf war allerdings überhaupt nicht zu denken. Schließlich kroch Richard leise zum Zelteingang. Er sah seinen Freund nur wenige Meter entfernt im Gras sitzen und auf die drei Felstürme starren. Einigermaßen beruhigt krabbelte Richard wieder in seinen Schlafsack.
Etwa drei Stunden später schreckte er aus einem belanglosen Traum. Es war inzwischen hell geworden. Tabea neben ihm schlummerte noch tief und fest. Aus dem benachbarten Zelt konnte Richard Victors Schnarchen vernehmen, das sie die ganze Nacht hindurch begleitet hatte. Richard zog Hose und Schuhe an und wankte noch ein wenig schlaftrunken nach draußen, um nach Theo zu sehen. Doch der saß nicht mehr im Gras. Gähnend stapfte Richard durch die feuchte Wiese, aber auch hinter dem Zelt und am Eingang der Furche konnte er den Biologen nicht entdecken. Er blickte ein wenig misstrauisch zu den feucht in der verschleierten Morgensonne glänzenden Basaltfelsen und machte sich auf den Weg zur Ruine.
Theo saß auf der Rückseite des Turms neben der Araukarie. Nachdenklich betrachtete er eine kleine, rote Frucht, die er zwischen seinen Fingern bewegte.
„Wie geht’s?“, begrüßte Richard seinen Freund. „Hast du irgendwelche Drachen entdeckt?“
„Nein“, murmelte Theo nach einer Weile. „Hier gibt es nichts dergleichen: keine Schlangen, keine Vogelspinnen, keine exotischen Insekten. Nichts deutet auf ein altertümliches Biotop hin. Vielleicht gab es ja wirklich einmal einen Wanderzirkus oder einen Insektenzoo in der Gegend, und denen sind die Tiere ausgebrochen. Aber sicherlich haben sie den Winter nicht überlebt.“
„Und diese Klaue?“, warf Richard gähnend ein.
„Irgendwer muss sie hierher gebracht haben. Wieso, warum und um was es sich handelt, weiß ich nicht, aber sie stammt auf jeden Fall nicht von einem Tier, das hier überleben könnte.“
„Und warum haben die Gräser überlebt?“
„Es sind halbwegs kälteresistente Arten. Aber wie sie hierher kommen … völlig rätselhaft. – Schau dir einmal das da an.“
Theo warf ihm die Frucht zu, mit der er die ganze Zeit gespielt hatte.
„Von diesem Baum da?“, wollte Richard wissen. „Dieser Ara … dingsda?“
„Nein, von dort.“ Theo zeigte auf einen kleinen Strauch, der sich direkt an der Mauer zwischen die Brombeerranken gezwängt hatte.
„Südamerikanisch?“
„Wahrscheinlich. Eine Solanazee, ein Nachtschattengewächs, aber kein einheimisches. Ich tippe auf Lycopodium. Muss auf jeden Fall ein naher Verwandter unserer Tomate sein.“
Richard schnupperte an der Frucht. „Riecht aber nicht gerade wie eine To…“ Er unterbrach sich. Diesen Duft roch er nicht zum ersten Mal. Aufgeregt ritzte er die Frucht mit seinem Daumennagel und lutschte daran.
„Das hättest du jetzt besser nicht machen sollen“, bemerkte Theo trocken. „Ist höchstwahrscheinlich giftig. Vielleicht sogar tödlich.“
„Danke“, überging Richard Theos Warnung und versuchte, sich auf den Geschmack zu konzentrieren.
„Ich kenne die Sorte“, stellte er fest.
Überrascht zog Theo die Augenbrauen hoch. „Wann warst du in Südamerika?“
„Aus Edirne.“
„Das ist keine Frucht aus dem Mittelmeerraum. Das wüsste ich. Das verwechselst du.“
„Aus einer solchen Frucht hat deine Schöne die Salbe zubereitet, mit der sie meine Wange bestrichen hat.“
Theo wurde blass. „In deinem Traum?“
„Ja. Die hier ist wohl noch nicht ganz reif, aber der Geschmack ist sehr ähnlich. Natürlich kann das Zufall sein, aber komisch ist es schon.“
„Gib her.“
Theo saugte ebenfalls an der Frucht. „Nicht schlecht. Aber irgendein Gift ist da drin.“
„Ein Heilmittel“, widersprach Richard.
„In kleinen Konzentrationen wirken viele Gifte wie Heilmittel“, dozierte Theo und hielt Richard die Frucht vor die Augen. „Sie hat dir also davon auf die Wange gestrichen?“, vergewisserte er sich.
„Ja“, bestätigte Richard. „Warum fragst du?“
Theo wies auf die Staude, von der die Frucht stammte.
„Sie hat mir diese Pflanze gezeigt“, erklärte er.
„Sie?“ Jetzt war Richard endgültig wach geworden. „Im Traum?“
Theo schüttelte den Kopf. „Hier und jetzt. Ich habe sie gesehen.“
„Was hast du?“
„Als die Sonne aufging. Sie stand da, vor der Ruine, in einem weißen Gewand, mit Kapuze. Sie hat mir zugewinkt, wie in meinem Traum. Ich hab’ am Zelt gesessen und sie angestarrt. Ich dachte, ich bilde mir das nur ein, machte die Augen zu und wieder auf, aber sie stand immer noch da. Dann bin ich zu ihr gegangen, ganz vorsichtig, ich habe sie ja schließlich heute Nacht im Traum gesehen – und das war ein furchtbarer Traum. Die Tatsache, dass sie nun vor mir stand, hat mir Angst gemacht. Aber ich musste zu ihr. Ich musste sehen, ob sie wirklich dort stand. Als ich näher kam, lief sie hierher hinter den Turm. Ich ihr nach. Dann bückte sie sich, legte ihre Hände auf diese Pflanze, und dann war sie plötzlich weg.“
„Hat sie sich aufgelöst?“
„Nein, ich habe nur einen Moment woandershin geschaut, weil ich über eine Wurzel gestolpert bin, und als ich wieder zu ihr hinsah, war sie weg. – Werde ich verrückt?“
„Nein“, beruhigte ihn Richard. „Du warst schon immer verrückt.“
„War es eine Halluzination?“
„Was sonst?“
„Aber es kam mir so wirklich vor.“
„Das kann ich verstehen. Mein Traum in Edirne … ich denke auch immer, dass das alles dort wirklich geschehen sein muss. Besonders, wenn dann solche Dinge passieren, wie gerade eben: Dass ich die Frucht in den Händen halte, mit der sie mich geheilt hat. Dann denke ich auch, dass ich einen Sprung in der Schüssel habe.“
„Dann werden wir wohl beide verrückt.“
„Irgendetwas ist da faul. Du träumst von ihr und ich auch. Als ob sie oder irgendein anderer unsere Träume beeinflusst. Durch Telepathie oder so.“
„Das gibt es nicht.“
„Sicher? Sie gehört zu dieser schwarzen Sekte, da bin ich mir sicher. Vielleicht haben die ja irgendeine Meditationstechnik entwickelt, mit der sie die Träume anderer verändern können.“
„Deine Fantasie geht mit dir durch, Richard.“
„Aber seltsam ist es schon.“
„Ja, das stimmt. Aber ich halte immer noch eine Reihe von Zufällen für wahrscheinlicher.“
Richard seufzte. Eigentlich hielt er sich ja auch für einen rationalen Menschen. Aber die Ereignisse der letzten Zeit hatten für seinen Geschmack einige Zufälle zuviel hervorgebracht. Er ging zur Ruine, um die Pflanze näher zu betrachten. Sie ähnelte tatsächlich der Staude auf der Zeichnung Martin Finks und der auf dem Relief in der Opferhalle der Bogomilen. Noch ein Zufall?
„Da“, stellte er fest, „an der Mauer, da sind noch mehr Früchte, glaube ich.“ Er drückte die Brombeerranken, die ihm im Weg standen, mit seinen Schuhen zur Seite. Dahinter wuchs eine weitere Staude mit drei oder vier unreifen Früchten, und hinter der Staude gähnte ein Loch in der Mauer.
„Theo!“, rief Richard aufgeregt. Doch sein Freund stand schon neben ihm.
„Da geht es in den Turm“, zeigte Richard.
„In meinem Traum habe ich hier einen Eingang gesehen“, raunte Theo. „Wir sollten ein wenig buddeln. Vielleicht finden wir da drin die Lösung unserer Rätsel.“
Das Erdreich war locker, und nachdem sie ein paar widerspenstige Wurzeln beseitigt hatten, konnten sie rasch die Öffnung zu einer Größe erweitern, die ihnen gestattete, sich hindurchzuzwängen.
Im Inneren allerdings bot sich ihnen eine Enttäuschung. Im Halbdunkel stellten sie fest, dass sie sich am oberen Ende einer runden Kammer befanden. Die Decke war so niedrig, dass sie nicht einmal aufrecht sitzen konnten. Der Grund unter ihnen bestand aus feuchter, klumpiger Erde. Sie füllte anscheinend den größten Teil der vermutlich tief nach unten reichenden Kammer aus. Der Boden fiel schräg nach der dem Zugang gegenüberliegenden Seite hin ab. An den Wänden oder der Decke war in dem unzureichenden Licht weder ein Relief noch die Spur eines Gemäldes zu erkennen. Aber vielleicht würden sie ja mit ihren Taschenlampen mehr entdecken.
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