Jan Nadelbaum
Kurzgeschichtensammlung I
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Inhaltsverzeichnis
Titel Jan Nadelbaum Kurzgeschichtensammlung I Dieses ebook wurde erstellt bei
Ein- und Aussichten
Die blaue Blume
Der Satz
Die Beere
Der Berliner
Impressum neobooks
I.
Die Frühjahrssonne stand senkrecht über dem weiten Platz. Die ihn umgebenden Häuser warfen kaum Schatten. Für kurze Zeit füllten sich die Gassen der Altstadt mit Leben, ehe die Menschen wieder in irgendwelchen Läden oder Büros verschwanden, deren es hier viele gab. Auf einem Balkon, hoch über dem geschäftigen Treiben, saßen – wie abgehoben – an einem kleinen Tisch zwei junge Männer. Sie hatten Mittagspause und waren dort zum Essen verabredet.
„Wir haben uns ja seit Ewigkeiten nicht mehr gesehen“, meinte Stig.
Aaron lächelte zustimmend.
„Wie lang ist das her? Drei, vier Monate?“
„Ein halbes Jahr“, korrigierte Aaron trocken.
„Oha, hätte ich nicht gedacht.“
„Ja, aber schön dich noch mal zu sehen“, sagte er und betrachtete halb träumend die kastanienfarbenen Augen seines Gegenübers. Sein Gesicht, sein spitzbübisches Lächeln, seine vollen Lippen und die – zwar nicht ganz in Reih und Glied stehenden – hellen Zähne übten auf ihn einen eigenartigen Zauber aus. Er hätte ihn stundenlang anstarren können, ohne auch nur ein Wort zu wechseln. Selten war er jemandem mit einer solchen Ausstrahlung begegnet, ja, ihm war es, als sei Stig gar der Erste, der überhaupt eine solche Ausstrahlung besaß. Lange hatte er auf ein Wiedersehen gehofft. Früher ging es leichter. Sie kamen beide vom Land, beide aus demselben Dorf und waren zwecks Studiums in die Stadt gezogen, wo sie nun auch beruflich ihr Auskommen gefunden hatten.
„Haben die Herren sich schon entschieden“, fragte eine dunkelhaarige Schönheit, die ihrer Kleidung nach wohl die Kellnerin war und Aaron mit einem Schlag aus seinen Träumen riss.
„Klar, ein stilles Mineralwasser und die Don Giovanni“, lachte Stig ihr ins Gesicht.
Sie blinzelte ihn verlegen an und wandte sich Aaron zu.
„Ein Wasser und die Vegetarische, bitte“, nuschelte er.
„Still, medium oder normal?“
„Medium“, antwortete er unsicher und sah zu Stig.
Die Bedienung nickte, raffte die Karten zusammen und ging wieder, während Stig ihr lange hinterherschaute.
„Scharfes Geschoss“, meinte er nach einer Weile und blickte Aaron an, als wolle er ihn auffordern zuzustimmen.
„Du hast doch deine Pia.“
„Pia? Wer ist Pia?“
Aaron zögerte.
„Deine Freundin…?“
„Meine Freundin?“
„Als wir uns das letzte Mal gesehen haben, hast du mir von einer erzählt, die Pia hieß und deine Freundin sei.“
„Hab ich das“, Stig betrachtete ihn ungläubig, „das muss aber dann schon lange her sein.“
„Wie vorhin gesagt: Ein halbes Jahr.“
Stig grübelte.
„Ja, stimmt, jetzt wo du es sagst. Ich hatte mal was mit ’ner Pia – ist aber echt schon ewig her.“
„Wie man’s nimmt“, warf Aaron ein, „hattest du seitdem so viele andere?“
Er musste lachen. Stig amüsierte sich:
„Warum nicht? Bin doch ein freier Mann. Alter, du solltest dir auch mal eine anlachen. Wie sieht’s denn generell bei dir aus damit?“
„Nix.“
In diesem Moment kehrte die Kellnerin zurück. Aaron schwieg. Stig schien weder sein Schweigen noch die Anwesenheit der Kellnerin zu stören:
„Warum? Es gibt doch so viele schöne Frauen!“
Seine Augen schweiften vom Becken der Bedienung über ihre Taille, den Bauch, die Brüste, den Hals, das Kinn, den Mund und die Nase hin zu ihren Augen. Sie versuchte, sich nichts anmerken zu lassen, doch gelang ihr das mehr schlecht als recht. Zu sehr verstand es Stig, seine männlichen Reize auszuspielen. Aaron wusste es nur allzu gut. Er drehte beschämt und mit gesenktem Haupt den Fuß seines Wasserglases. Irgendwann sagte er „Danke“ und die Kellnerin stellte die kleine gläserne Flasche ab. Mit einem vielsagenden Blick in Richtung Stig zog sie sich zurück.
„Ich bin halt nicht du“, erwiderte Aaron.
„Hattest du überhaupt schon mal was mit einer?“
Aaron verspürte den Drang, ihm etwas sagen zu müssen, was er ihm schon längst hatte sagen wollen, doch er brachte es nicht fertig. Stattdessen seufzte er innerlich.
„Doch.“
„Ja, und?“
„Ja, ist nicht mehr.“
„Kommt vor.“
„Ja“, gestand er ein und schämte sich, dass er sein Gegenüber belog.
Stigs Augen funkelten. Diese Augen! Aaron besann sich:
„Warum ist nichts mehr mit Pia?“
„Pff… weiß nicht. Hatte keine Lust mehr.“
„Du oder sie?“
„Ich natürlich“, lachte Stig.
„Warum natürlich? Ist das so normal?“
„Bei mir schon. Irgendwann sind die Weiber halt auch wieder langweilig.“
„Willst du denn nicht mal was Festes?“
„Wozu denn? Bin doch jung. Mich binden kann ich später auch noch. Zuerst mal bisschen Spaß.“
„Und die Frauen?“
„Was soll mit denen sein? Haben doch auch ihren Spaß.“
„Ja, schon… aber…“
„Ach, du denkst zu viel“, unterbrach ihn Stig unwirsch.
„Ich weiß nicht, ob du so einmal glücklich wirst. Ich würde es nicht.“
„Wer sagt denn, dass ich nicht glücklich bin“, er starrte ihn an.
Seine Gesichtszüge verrieten einen gewissen Grad Gereiztheit. Was musste Aaron ihn auch solch ein Zeug fragen? Überhaupt: Aaron – er könnte viel mehr aus sich machen, wenn er sich bloß einmal bemühen würde. Es fing ja schon bei den Klamotten an – ging es nicht etwas moderner? Nicht, dass er altmodischen Kram trug, allerdings: Etwas mehr Modebewusstsein täte ihm sicherlich gut. Kein Wunder, dass er bei Frauen nicht landen konnte. Er war keineswegs unattraktiv, das musste Stig ihm zugestehen, doch schien er zu wenig Wert auf sein Äußeres zu legen, entschieden zu wenig!
„Hab ich so nicht gesagt. Ich kann mir hingegen nicht vorstellen, dass das dein ganzes Leben so läuft. Wie viele waren es denn seit Pia?“
Stig holte tief Luft.
„Vier oder fünf.“
„Also rein rechnerisch pro Monat ungefähr eine“, grinste nun selbst Aaron.
„Nee. Wenn ich abends weg bin, gehe ich meistens nicht alleine heim.“
„Wie gut, dass wir heute Mittag aus sind…“
„Ja, und wie gut, dass du ein Typ bist“, entgegnete Stig mit schallendem Gelächter und lehnte sich nach hinten.
Der geöffnete Kragen seines Hemds legte eine silberne Kette frei. Aaron schluckte und sah dann betreten auf den Platz unter ihnen. An dem Brunnen spielten einige Schulkinder. Es war heiß, irgendwie zu heiß für diese Jahreszeit. Eine Traube Touristen hatte sich vor dem Dom versammelt. Aaron erkannte nicht, ob sie ihn bereits besichtigt hatten oder ob sie ihn noch besichtigen würden. Zwei, drei Mal war er dort gewesen – höchstens. Von außen wirkte er imposant, majestätisch, prachtvoll. Innen war es ihm zu düster, zu muffig. Kaum Licht, kaum Luft. Von außen allerdings, das musste er zugeben, verfehlte der Dom keineswegs seine Wirkung.
Stig verharrte weiterhin in seiner Pose. Hin und wieder ließ er die Brustmuskeln spielen. ‚Ein echter Macho‘, dachte Aaron und konnte es ihm nicht verübeln.
„Frauen sind wie Straßenbahnen“, griff Stig den Gesprächsfaden wieder auf, „nach der einen kommt immer ‘ne andere.“
„Aber je später es wird, desto weniger fahren“, konterte Aaron.
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